scheinbaren Ruhe nicht aus. Er fällt die Umste- henden an, wenn sie nicht auf ihrer Huth sind. So kann auch äussere Furcht den Zornigen, die seinem wilden Drang ein Gegengewicht hält, auf einen Augenblick in Schranken halten. Wir fin- den daher bald eine partielle, bald eine allgemeine, bald gar keine Verkehrtheit in den verschiednen Funktionen des Vorstellungsvermögens. In den meisten Fällen sind sie nicht eigentlich verkehrt, sondern vielmehr durch den Zustand der Tobsucht unterdrückt und aufgehoben. In der Wuth ohne Verkehrtheit ist die Seele bis auf einen blinden Impuls zu gewaltsamen Handlungen gesund, der an die Stelle des freien Willens getreten ist. In den Intervallen des Nachlasses und der Ermattung ist das Vorstellungsvermögen entweder gesund, oder mehr oder weniger verletzt. Daher kann ich auch, wie Chiarugi*) will, weder allgemeine noch partielle Verkehrtheit als Charakter der Tobsucht gelten lassen. Denn gesetzt auch, der Kranke faselte in den Intervallen, so gehört die- ser Zustand nicht zur Tobsucht, sondern zu ande- ren Arten der Geisteszerrüttungen.
Die Sitten des Kranken sind aufs sonderbar- ste verändert; das züchtige Weib stösst Zoten aus, entblösst sich, die sanfte Schöne wird eine wü- thende Megäre, der furchtsame Hypochondrist ein kühner Wüthrig, weil er ohne Bewusstseyn
*) l. c. S. 484.
ſcheinbaren Ruhe nicht aus. Er fällt die Umſte- henden an, wenn ſie nicht auf ihrer Huth ſind. So kann auch äuſsere Furcht den Zornigen, die ſeinem wilden Drang ein Gegengewicht hält, auf einen Augenblick in Schranken halten. Wir fin- den daher bald eine partielle, bald eine allgemeine, bald gar keine Verkehrtheit in den verſchiednen Funktionen des Vorſtellungsvermögens. In den meiſten Fällen ſind ſie nicht eigentlich verkehrt, ſondern vielmehr durch den Zuſtand der Tobſucht unterdrückt und aufgehoben. In der Wuth ohne Verkehrtheit iſt die Seele bis auf einen blinden Impuls zu gewaltſamen Handlungen geſund, der an die Stelle des freien Willens getreten iſt. In den Intervallen des Nachlaſſes und der Ermattung iſt das Vorſtellungsvermögen entweder geſund, oder mehr oder weniger verletzt. Daher kann ich auch, wie Chiarugi*) will, weder allgemeine noch partielle Verkehrtheit als Charakter der Tobſucht gelten laſſen. Denn geſetzt auch, der Kranke faſelte in den Intervallen, ſo gehört die- ſer Zuſtand nicht zur Tobſucht, ſondern zu ande- ren Arten der Geiſteszerrüttungen.
Die Sitten des Kranken ſind aufs ſonderbar- ſte verändert; das züchtige Weib ſtöſst Zoten aus, entblöſst ſich, die ſanfte Schöne wird eine wü- thende Megäre, der furchtſame Hypochondriſt ein kühner Wüthrig, weil er ohne Bewuſstſeyn
*) l. c. S. 484.
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ſcheinbaren Ruhe nicht aus. Er fällt die Umſte-
henden an, wenn ſie nicht auf ihrer Huth ſind.
So kann auch äuſsere Furcht den Zornigen, die
ſeinem wilden Drang ein Gegengewicht hält, auf
einen Augenblick in Schranken halten. Wir fin-
den daher bald eine partielle, bald eine allgemeine,
bald gar keine Verkehrtheit in den verſchiednen
Funktionen des Vorſtellungsvermögens. In den
meiſten Fällen ſind ſie nicht eigentlich verkehrt,
ſondern vielmehr durch den Zuſtand der Tobſucht
unterdrückt und aufgehoben. In der Wuth ohne
Verkehrtheit iſt die Seele bis auf einen blinden
Impuls zu gewaltſamen Handlungen geſund, der
an die Stelle des freien Willens getreten iſt. In
den Intervallen des Nachlaſſes und der Ermattung
iſt das Vorſtellungsvermögen entweder geſund,
oder mehr oder weniger verletzt. Daher kann ich
auch, wie Chiarugi *) will, weder allgemeine
noch partielle Verkehrtheit als Charakter der
Tobſucht gelten laſſen. Denn geſetzt auch, der
Kranke faſelte in den Intervallen, ſo gehört die-
ſer Zuſtand nicht zur Tobſucht, ſondern zu ande-
ren Arten der Geiſteszerrüttungen.
Die Sitten des Kranken ſind aufs ſonderbar-
ſte verändert; das züchtige Weib ſtöſst Zoten aus,
entblöſst ſich, die ſanfte Schöne wird eine wü-
thende Megäre, der furchtſame Hypochondriſt
ein kühner Wüthrig, weil er ohne Bewuſstſeyn
*) l. c. S. 484.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/378>, abgerufen am 24.11.2024.
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