und irgend eine romanhafte Idee fixiren. Beson- ders scheint aus dieser Quelle jener jovialische Wahnsinn zu entstehn, der sich auf den Besitz vorzüglicher Reichthümer oder besonderer Ehre bezieht. Endlich sucht noch Herr Ehrhard*) den Keim zur Melancholie in der Einrichtung unserer Willenskraft, vermöge welcher wir im Stande sind, Vorsätze zu fassen und fest zu halten. Dies geschieht nach Vernunftgründen, dem Pflichtbegriff gemäss, oder ohne klares Bewusst- seyn von Gründen und Zwecken nach Eigensinn. Im ersten Fall können wir der Reflexion freien Lauf lassen und unsere Entschlüsse ändern, wenn wir getäuscht sind; im andern Fall müssen wir uns vor der Kritik der Vernunft verwahren, ihre Untersuchungen abweisen und gleichsam künst- lich eine fixe Vorstellung schaffen. In beiden Fällen wirkt einerley Vermögen, uns selbst zu bestimmen, auf welchem unsere Selbststän- digkeit beruht. Daher der Hang zur Unabhän- gigkeit, dem wir aber, ohne mit uns selbst in Wi- derspruch zu gerathen, nur dadurch genügen können, dass wir dem Moralgesetz gemäss hand- len. Allein da dies nicht so leicht ist, so sucht der Mensch denselben auf dem Wege des Eigen- sinns, mit weniger Anstrengung zu befriedigen. Er hält seinen Vorsatz fest, um seine Selbststän- digkeit in den Augen anderer zu behaupten und
*)Wagner Beitr. 2 B. 41 S.
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und irgend eine romanhafte Idee fixiren. Beſon- ders ſcheint aus dieſer Quelle jener jovialiſche Wahnſinn zu entſtehn, der ſich auf den Beſitz vorzüglicher Reichthümer oder beſonderer Ehre bezieht. Endlich ſucht noch Herr Ehrhard*) den Keim zur Melancholie in der Einrichtung unſerer Willenskraft, vermöge welcher wir im Stande ſind, Vorſätze zu faſſen und feſt zu halten. Dies geſchieht nach Vernunftgründen, dem Pflichtbegriff gemäſs, oder ohne klares Bewuſst- ſeyn von Gründen und Zwecken nach Eigenſinn. Im erſten Fall können wir der Reflexion freien Lauf laſſen und unſere Entſchlüſſe ändern, wenn wir getäuſcht ſind; im andern Fall müſſen wir uns vor der Kritik der Vernunft verwahren, ihre Unterſuchungen abweiſen und gleichſam künſt- lich eine fixe Vorſtellung ſchaffen. In beiden Fällen wirkt einerley Vermögen, uns ſelbſt zu beſtimmen, auf welchem unſere Selbſtſtän- digkeit beruht. Daher der Hang zur Unabhän- gigkeit, dem wir aber, ohne mit uns ſelbſt in Wi- derſpruch zu gerathen, nur dadurch genügen können, daſs wir dem Moralgeſetz gemäſs hand- len. Allein da dies nicht ſo leicht iſt, ſo ſucht der Menſch denſelben auf dem Wege des Eigen- ſinns, mit weniger Anſtrengung zu befriedigen. Er hält ſeinen Vorſatz feſt, um ſeine Selbſtſtän- digkeit in den Augen anderer zu behaupten und
*)Wagner Beitr. 2 B. 41 S.
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und irgend eine romanhafte Idee fixiren. Beſon-
ders ſcheint aus dieſer Quelle jener jovialiſche
Wahnſinn zu entſtehn, der ſich auf den Beſitz
vorzüglicher Reichthümer oder beſonderer Ehre
bezieht. Endlich ſucht noch Herr Ehrhard *)
den Keim zur Melancholie in der Einrichtung
unſerer Willenskraft, vermöge welcher wir im
Stande ſind, Vorſätze zu faſſen und feſt zu halten.
Dies geſchieht nach Vernunftgründen, dem
Pflichtbegriff gemäſs, oder ohne klares Bewuſst-
ſeyn von Gründen und Zwecken nach Eigenſinn.
Im erſten Fall können wir der Reflexion freien
Lauf laſſen und unſere Entſchlüſſe ändern, wenn
wir getäuſcht ſind; im andern Fall müſſen wir
uns vor der Kritik der Vernunft verwahren, ihre
Unterſuchungen abweiſen und gleichſam künſt-
lich eine fixe Vorſtellung ſchaffen. In beiden
Fällen wirkt einerley Vermögen, uns ſelbſt
zu beſtimmen, auf welchem unſere Selbſtſtän-
digkeit beruht. Daher der Hang zur Unabhän-
gigkeit, dem wir aber, ohne mit uns ſelbſt in Wi-
derſpruch zu gerathen, nur dadurch genügen
können, daſs wir dem Moralgeſetz gemäſs hand-
len. Allein da dies nicht ſo leicht iſt, ſo ſucht
der Menſch denſelben auf dem Wege des Eigen-
ſinns, mit weniger Anſtrengung zu befriedigen.
Er hält ſeinen Vorſatz feſt, um ſeine Selbſtſtän-
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*) Wagner Beitr. 2 B. 41 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/328>, abgerufen am 22.11.2024.
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