und ist daher ausser Stande, irgend etwas anders zu wirken. Der Kranke, sagt Bellini*), be- wegt sich nicht von der Stelle. Sitzt er, so steht er nicht auf; liegt er, so richtet er sich nicht in die Höhe und stellt sich nicht auf die Füsse, wenn er nicht dazu genöthiget wird. Er flieht die Ge- sellschaft der Menschen nicht mehr, antwortet nicht, wenn er gefragt wird, und scheint doch den Gesprächen aufmerksam zuzuhören. Er achtet auf keinen Rath, als ob er taub, nimmt die Objekte des Gesichts und Gefühls nicht wahr, als ob er in Gedanken vertieft wäre, er schläft und wacht abwechselnd, isst und trinkt, wenn ihm etwas vorgesetzt wird. Kurz das ganze Wirken der Seele ist eine langweilige Monotonie; aller Wechsel, der sie im gesunden Zustande cha- rakterisirt, hat aufgehört; sie leidet an einer Starrsucht des Vorstellungsvermögens in ver- schiednen Modifikationen **).
Dass der fixe Wahnsinn mancherley Modifi- kationen annehmen und in andere Arten von Geisteszerrüttungen übergehen könne, erhellt aus der Einrichtung des Seelenorgans. Einige Kran- ke tragen ihre Idee unaufhörlich vor, andere be- obachten ein hartnäckiges Stillschweigen Jahre- lang, ohne die Geheimnisse ihres Herzens zu verrathen. Zuweilen ändert sich das Object der
*) de morbis capitis; Chiarugi l. c. 229 S.
**) S. oben 126 S.
und iſt daher auſser Stande, irgend etwas anders zu wirken. Der Kranke, ſagt Bellini*), be- wegt ſich nicht von der Stelle. Sitzt er, ſo ſteht er nicht auf; liegt er, ſo richtet er ſich nicht in die Höhe und ſtellt ſich nicht auf die Füſse, wenn er nicht dazu genöthiget wird. Er flieht die Ge- ſellſchaft der Menſchen nicht mehr, antwortet nicht, wenn er gefragt wird, und ſcheint doch den Geſprächen aufmerkſam zuzuhören. Er achtet auf keinen Rath, als ob er taub, nimmt die Objekte des Geſichts und Gefühls nicht wahr, als ob er in Gedanken vertieft wäre, er ſchläft und wacht abwechſelnd, iſst und trinkt, wenn ihm etwas vorgeſetzt wird. Kurz das ganze Wirken der Seele iſt eine langweilige Monotonie; aller Wechſel, der ſie im geſunden Zuſtande cha- rakteriſirt, hat aufgehört; ſie leidet an einer Starrſucht des Vorſtellungsvermögens in ver- ſchiednen Modifikationen **).
Daſs der fixe Wahnſinn mancherley Modifi- kationen annehmen und in andere Arten von Geiſteszerrüttungen übergehen könne, erhellt aus der Einrichtung des Seelenorgans. Einige Kran- ke tragen ihre Idee unaufhörlich vor, andere be- obachten ein hartnäckiges Stillſchweigen Jahre- lang, ohne die Geheimniſſe ihres Herzens zu verrathen. Zuweilen ändert ſich das Object der
*) de morbis capitis; Chiarugi l. c. 229 S.
**) S. oben 126 S.
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und iſt daher auſser Stande, irgend etwas anders
zu wirken. Der Kranke, ſagt Bellini *), be-
wegt ſich nicht von der Stelle. Sitzt er, ſo ſteht
er nicht auf; liegt er, ſo richtet er ſich nicht in
die Höhe und ſtellt ſich nicht auf die Füſse, wenn
er nicht dazu genöthiget wird. Er flieht die Ge-
ſellſchaft der Menſchen nicht mehr, antwortet
nicht, wenn er gefragt wird, und ſcheint doch
den Geſprächen aufmerkſam zuzuhören. Er
achtet auf keinen Rath, als ob er taub, nimmt
die Objekte des Geſichts und Gefühls nicht wahr,
als ob er in Gedanken vertieft wäre, er ſchläft
und wacht abwechſelnd, iſst und trinkt, wenn
ihm etwas vorgeſetzt wird. Kurz das ganze
Wirken der Seele iſt eine langweilige Monotonie;
aller Wechſel, der ſie im geſunden Zuſtande cha-
rakteriſirt, hat aufgehört; ſie leidet an einer
Starrſucht des Vorſtellungsvermögens in ver-
ſchiednen Modifikationen **).
Daſs der fixe Wahnſinn mancherley Modifi-
kationen annehmen und in andere Arten von
Geiſteszerrüttungen übergehen könne, erhellt aus
der Einrichtung des Seelenorgans. Einige Kran-
ke tragen ihre Idee unaufhörlich vor, andere be-
obachten ein hartnäckiges Stillſchweigen Jahre-
lang, ohne die Geheimniſſe ihres Herzens zu
verrathen. Zuweilen ändert ſich das Object der
*) de morbis capitis; Chiarugi l. c. 229 S.
**) S. oben 126 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/322>, abgerufen am 22.11.2024.
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