Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Reizbarkeit, mit jeder anderen Erregung dessel-
ben in Sympathie gesetzt. Daher die Association
des Wahns fast mit allen übrigen Vorstellungen
der Seele, nach den neuen Beziehungen, die
durch die Krankheit zu Stande gekommen
sind *).

Aus dieser Darstellung des Gemeingefühls
ist es begreiflich, wie Krankheiten desselben Irr-
thümer, fixe Ideen, falsche Urtheile und kranke
Spiele der Phantasie veranlassen, wie dadurch ab-
norme Instinkte, Triebe und Begierden entstehn
können, die theils unmittelbare Produkte der
verstimmten Organisation sind, theils im Gefolge
der falschen Ideen entstehn. Wie leicht können
diese Zustände zur Verrücktheit führen, der sie
so nahe verwandt sind? Wie oft ist sie unmittel-
bares Product kranker Appetite und Instinkte,
Folge der Geilheit, Mutterwuth und Hypochon-
drie? Und worin anders, als in der Organisation,
sind diese Zustände gegründet **)? Man setze einen
Hypochondristen, dem sein krankes Gemeinge-
fühl Knochenschmerzen vorstellt. Er sucht die
Ursache derselben in einem versteckten venerischen
Gift. Die Idee wird habituell; er beschäfftigt
sich unaufhörlich mit ihr und ist deswegen taub
für Gründe des Gegentheils. Dem fixen Wahn
folgen absurde Handlungen, unzeitiger Gebrauch

*) Reil Fieberlehre 4. Bd. 24 u. 65 S.
**) Hübner d. c. §. 6. u. 7.

Reizbarkeit, mit jeder anderen Erregung deſſel-
ben in Sympathie geſetzt. Daher die Aſſociation
des Wahns faſt mit allen übrigen Vorſtellungen
der Seele, nach den neuen Beziehungen, die
durch die Krankheit zu Stande gekommen
ſind *).

Aus dieſer Darſtellung des Gemeingefühls
iſt es begreiflich, wie Krankheiten deſſelben Irr-
thümer, fixe Ideen, falſche Urtheile und kranke
Spiele der Phantaſie veranlaſſen, wie dadurch ab-
norme Inſtinkte, Triebe und Begierden entſtehn
können, die theils unmittelbare Produkte der
verſtimmten Organiſation ſind, theils im Gefolge
der falſchen Ideen entſtehn. Wie leicht können
dieſe Zuſtände zur Verrücktheit führen, der ſie
ſo nahe verwandt ſind? Wie oft iſt ſie unmittel-
bares Product kranker Appetite und Inſtinkte,
Folge der Geilheit, Mutterwuth und Hypochon-
drie? Und worin anders, als in der Organiſation,
ſind dieſe Zuſtände gegründet **)? Man ſetze einen
Hypochondriſten, dem ſein krankes Gemeinge-
fühl Knochenſchmerzen vorſtellt. Er ſucht die
Urſache derſelben in einem verſteckten veneriſchen
Gift. Die Idee wird habituell; er beſchäfftigt
ſich unaufhörlich mit ihr und iſt deswegen taub
für Gründe des Gegentheils. Dem fixen Wahn
folgen abſurde Handlungen, unzeitiger Gebrauch

*) Reil Fieberlehre 4. Bd. 24 u. 65 S.
**) Hübner d. c. §. 6. u. 7.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0274" n="269"/>
Reizbarkeit, mit jeder anderen Erregung de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben in Sympathie ge&#x017F;etzt. Daher die A&#x017F;&#x017F;ociation<lb/>
des Wahns fa&#x017F;t mit allen übrigen Vor&#x017F;tellungen<lb/>
der Seele, nach den neuen Beziehungen, die<lb/>
durch die Krankheit zu Stande gekommen<lb/>
&#x017F;ind <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Reil</hi> Fieberlehre 4. Bd. 24 u. 65 S.</note>.</p><lb/>
          <p>Aus die&#x017F;er Dar&#x017F;tellung des Gemeingefühls<lb/>
i&#x017F;t es begreiflich, wie Krankheiten de&#x017F;&#x017F;elben Irr-<lb/>
thümer, fixe Ideen, fal&#x017F;che Urtheile und kranke<lb/>
Spiele der Phanta&#x017F;ie veranla&#x017F;&#x017F;en, wie dadurch ab-<lb/>
norme In&#x017F;tinkte, Triebe und Begierden ent&#x017F;tehn<lb/>
können, die theils unmittelbare Produkte der<lb/>
ver&#x017F;timmten Organi&#x017F;ation &#x017F;ind, theils im Gefolge<lb/>
der fal&#x017F;chen Ideen ent&#x017F;tehn. Wie leicht können<lb/>
die&#x017F;e Zu&#x017F;tände zur Verrücktheit führen, der &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;o nahe verwandt &#x017F;ind? Wie oft i&#x017F;t &#x017F;ie unmittel-<lb/>
bares Product kranker Appetite und In&#x017F;tinkte,<lb/>
Folge der Geilheit, Mutterwuth und Hypochon-<lb/>
drie? Und worin anders, als in der Organi&#x017F;ation,<lb/>
&#x017F;ind die&#x017F;e Zu&#x017F;tände gegründet <note place="foot" n="**)"><hi rendition="#g">Hübner</hi> d. c. §. 6. u. 7.</note>? Man &#x017F;etze einen<lb/>
Hypochondri&#x017F;ten, dem &#x017F;ein krankes Gemeinge-<lb/>
fühl Knochen&#x017F;chmerzen vor&#x017F;tellt. Er &#x017F;ucht die<lb/>
Ur&#x017F;ache der&#x017F;elben in einem ver&#x017F;teckten veneri&#x017F;chen<lb/>
Gift. Die Idee wird habituell; er be&#x017F;chäfftigt<lb/>
&#x017F;ich unaufhörlich mit ihr und i&#x017F;t deswegen taub<lb/>
für Gründe des Gegentheils. Dem fixen Wahn<lb/>
folgen ab&#x017F;urde Handlungen, unzeitiger Gebrauch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0274] Reizbarkeit, mit jeder anderen Erregung deſſel- ben in Sympathie geſetzt. Daher die Aſſociation des Wahns faſt mit allen übrigen Vorſtellungen der Seele, nach den neuen Beziehungen, die durch die Krankheit zu Stande gekommen ſind *). Aus dieſer Darſtellung des Gemeingefühls iſt es begreiflich, wie Krankheiten deſſelben Irr- thümer, fixe Ideen, falſche Urtheile und kranke Spiele der Phantaſie veranlaſſen, wie dadurch ab- norme Inſtinkte, Triebe und Begierden entſtehn können, die theils unmittelbare Produkte der verſtimmten Organiſation ſind, theils im Gefolge der falſchen Ideen entſtehn. Wie leicht können dieſe Zuſtände zur Verrücktheit führen, der ſie ſo nahe verwandt ſind? Wie oft iſt ſie unmittel- bares Product kranker Appetite und Inſtinkte, Folge der Geilheit, Mutterwuth und Hypochon- drie? Und worin anders, als in der Organiſation, ſind dieſe Zuſtände gegründet **)? Man ſetze einen Hypochondriſten, dem ſein krankes Gemeinge- fühl Knochenſchmerzen vorſtellt. Er ſucht die Urſache derſelben in einem verſteckten veneriſchen Gift. Die Idee wird habituell; er beſchäfftigt ſich unaufhörlich mit ihr und iſt deswegen taub für Gründe des Gegentheils. Dem fixen Wahn folgen abſurde Handlungen, unzeitiger Gebrauch *) Reil Fieberlehre 4. Bd. 24 u. 65 S. **) Hübner d. c. §. 6. u. 7.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/274
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/274>, abgerufen am 26.11.2024.