stellungen in ihre Theile auflösen, diese unter sich und mit andern vergleichen, gleichartige Merk- male absondern und sie zu neuen Begriffen zu- sammenfassen. Allmälig schreitet man zu schwe- reren Aufgaben. Anfangs wird der Verstand in Beziehung auf Gegenstände geübt, die gleichgül- tig sind; in der Folge müssen seine besondern Schwächen aufgesucht, Vorurtheile bekämpft, falsche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli- gion u. s. w. berichtiget werden, die mit der ob- waltenden Verrücktheit in Verbindung stehn. Zuletzt muss der Kranke zur Selbstthätigkeit in der Cultur seines Verstandes angereizt werden, das Verhältniss seiner Seelenkräfte ausspähn und diejenigen anbaun, die am meisten zurück sind. Hier hat der Psychologe des Tollhauses abermals ein weites Feld vor sich, das zu bearbeiten ihm besonders obliegt.
Zur Cultur des Begehrungsvermögens gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche Lust, und Abscheu gegen andere wecken, welche Schmerz verursachen. Wir stellen dem Kranken Objekte vor, die er nach seinen erforschten Nei- gungen begehren oder verabscheuen muss. Ent- fernung des Gegenstandes schwächt die Begierde, wenn sie schwach; entflammt dieselbe, wenn sie stark ist. Endlich suchen wir durch den Anbau der Vernunft die Freiheit des Willens wieder
ſtellungen in ihre Theile auflöſen, dieſe unter ſich und mit andern vergleichen, gleichartige Merk- male abſondern und ſie zu neuen Begriffen zu- ſammenfaſſen. Allmälig ſchreitet man zu ſchwe- reren Aufgaben. Anfangs wird der Verſtand in Beziehung auf Gegenſtände geübt, die gleichgül- tig ſind; in der Folge müſſen ſeine beſondern Schwächen aufgeſucht, Vorurtheile bekämpft, falſche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli- gion u. ſ. w. berichtiget werden, die mit der ob- waltenden Verrücktheit in Verbindung ſtehn. Zuletzt muſs der Kranke zur Selbſtthätigkeit in der Cultur ſeines Verſtandes angereizt werden, das Verhältniſs ſeiner Seelenkräfte ausſpähn und diejenigen anbaun, die am meiſten zurück ſind. Hier hat der Pſychologe des Tollhauſes abermals ein weites Feld vor ſich, das zu bearbeiten ihm beſonders obliegt.
Zur Cultur des Begehrungsvermögens gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche Luſt, und Abſcheu gegen andere wecken, welche Schmerz verurſachen. Wir ſtellen dem Kranken Objekte vor, die er nach ſeinen erforſchten Nei- gungen begehren oder verabſcheuen muſs. Ent- fernung des Gegenſtandes ſchwächt die Begierde, wenn ſie ſchwach; entflammt dieſelbe, wenn ſie ſtark iſt. Endlich ſuchen wir durch den Anbau der Vernunft die Freiheit des Willens wieder
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ſtellungen in ihre Theile auflöſen, dieſe unter ſich
und mit andern vergleichen, gleichartige Merk-
male abſondern und ſie zu neuen Begriffen zu-
ſammenfaſſen. Allmälig ſchreitet man zu ſchwe-
reren Aufgaben. Anfangs wird der Verſtand in
Beziehung auf Gegenſtände geübt, die gleichgül-
tig ſind; in der Folge müſſen ſeine beſondern
Schwächen aufgeſucht, Vorurtheile bekämpft,
falſche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli-
gion u. ſ. w. berichtiget werden, die mit der ob-
waltenden Verrücktheit in Verbindung ſtehn.
Zuletzt muſs der Kranke zur Selbſtthätigkeit in
der Cultur ſeines Verſtandes angereizt werden,
das Verhältniſs ſeiner Seelenkräfte ausſpähn und
diejenigen anbaun, die am meiſten zurück ſind.
Hier hat der Pſychologe des Tollhauſes abermals
ein weites Feld vor ſich, das zu bearbeiten ihm
beſonders obliegt.
Zur Cultur des Begehrungsvermögens
gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen
Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs
Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche
Luſt, und Abſcheu gegen andere wecken, welche
Schmerz verurſachen. Wir ſtellen dem Kranken
Objekte vor, die er nach ſeinen erforſchten Nei-
gungen begehren oder verabſcheuen muſs. Ent-
fernung des Gegenſtandes ſchwächt die Begierde,
wenn ſie ſchwach; entflammt dieſelbe, wenn ſie
ſtark iſt. Endlich ſuchen wir durch den Anbau
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/257>, abgerufen am 18.12.2024.
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