Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Theil der Seele amputirt. Ein Meer von Ideen
in den Archiven der Dichtkunst, die feinsten Spie-
le des Witzes, die sinnreichsten Erfindungen, die
zartesten Gefühle, die brennendsten Bilder der
Phantasie, die heftigsten Triebe, die die Seele
unaufhaltbar zum Handeln fortreissen, wären
nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre,
der seine Art fortpflanzt. Ein Faser im Gehirn
erschlafft, und der in uns wohnende Götterfunke
ist zu einem Feen-Mährchen geworden.

Die grosse Welt spielt immerhin auf die
kleine nach ihrer zufälligen Verbindung mit der-
selben. Die empfangenen Eindrücke werden
vorgestellt und im Selbstbewusstseyn als Eigen-
thum aufgenommen. Sie dringen vorwärts an
die Leitschnüre des Nervensystems, bis zum
Hauptbrennpunkt der Organisation, und werden
von da nach aussen, oder nach andern Regio-
nen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt. Die
Aussendinge wechseln; es wechseln
die Reflectionspunkte in der Organisa-
tion
. Diese werden nemlich nach Maassgabe der
Thätigkeiten, die jene ehemals erregt haben,
immerhin nach andern Orten verlegt. Es con-
struirt sich durch sich selbst unvermerkt ein ande-
res Instrument. So entstehen meandrische Züge
und unvorhergesehne Impulse zur Thätigkeit, die
uns als Spontaneität blenden, weil wir ihre Cau-
salität, und daher auch ihre bedingte Nothwen-
digkeit nicht kennen. Es ist sogar nicht un-

Theil der Seele amputirt. Ein Meer von Ideen
in den Archiven der Dichtkunſt, die feinſten Spie-
le des Witzes, die ſinnreichſten Erfindungen, die
zarteſten Gefühle, die brennendſten Bilder der
Phantaſie, die heftigſten Triebe, die die Seele
unaufhaltbar zum Handeln fortreiſsen, wären
nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre,
der ſeine Art fortpflanzt. Ein Faſer im Gehirn
erſchlafft, und der in uns wohnende Götterfunke
iſt zu einem Feen-Mährchen geworden.

Die groſse Welt ſpielt immerhin auf die
kleine nach ihrer zufälligen Verbindung mit der-
ſelben. Die empfangenen Eindrücke werden
vorgeſtellt und im Selbſtbewuſstſeyn als Eigen-
thum aufgenommen. Sie dringen vorwärts an
die Leitſchnüre des Nervenſyſtems, bis zum
Hauptbrennpunkt der Organiſation, und werden
von da nach auſsen, oder nach andern Regio-
nen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt. Die
Auſsendinge wechſeln; es wechſeln
die Reflectionspunkte in der Organiſa-
tion
. Dieſe werden nemlich nach Maaſsgabe der
Thätigkeiten, die jene ehemals erregt haben,
immerhin nach andern Orten verlegt. Es con-
ſtruirt ſich durch ſich ſelbſt unvermerkt ein ande-
res Inſtrument. So entſtehen meandriſche Züge
und unvorhergeſehne Impulſe zur Thätigkeit, die
uns als Spontaneität blenden, weil wir ihre Cau-
ſalität, und daher auch ihre bedingte Nothwen-
digkeit nicht kennen. Es iſt ſogar nicht un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0014" n="9"/>
Theil der Seele amputirt. Ein Meer von Ideen<lb/>
in den Archiven der Dichtkun&#x017F;t, die fein&#x017F;ten Spie-<lb/>
le des Witzes, die &#x017F;innreich&#x017F;ten Erfindungen, die<lb/>
zarte&#x017F;ten Gefühle, die brennend&#x017F;ten Bilder der<lb/>
Phanta&#x017F;ie, die heftig&#x017F;ten Triebe, die die Seele<lb/>
unaufhaltbar zum Handeln fortrei&#x017F;sen, wären<lb/>
nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre,<lb/>
der &#x017F;eine Art fortpflanzt. Ein Fa&#x017F;er im Gehirn<lb/>
er&#x017F;chlafft, und der in uns wohnende Götterfunke<lb/>
i&#x017F;t zu einem Feen-Mährchen geworden.</p><lb/>
          <p>Die gro&#x017F;se Welt &#x017F;pielt immerhin auf die<lb/>
kleine nach ihrer zufälligen Verbindung mit der-<lb/>
&#x017F;elben. Die empfangenen Eindrücke werden<lb/>
vorge&#x017F;tellt und im Selb&#x017F;tbewu&#x017F;st&#x017F;eyn als Eigen-<lb/>
thum aufgenommen. Sie dringen vorwärts an<lb/>
die Leit&#x017F;chnüre des Nerven&#x017F;y&#x017F;tems, bis zum<lb/>
Hauptbrennpunkt der Organi&#x017F;ation, und werden<lb/>
von da nach au&#x017F;sen, oder nach andern Regio-<lb/>
nen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt. <hi rendition="#g">Die<lb/>
Au&#x017F;sendinge wech&#x017F;eln; es wech&#x017F;eln<lb/>
die Reflectionspunkte in der Organi&#x017F;a-<lb/>
tion</hi>. Die&#x017F;e werden nemlich nach Maa&#x017F;sgabe der<lb/>
Thätigkeiten, die jene ehemals erregt haben,<lb/>
immerhin nach andern Orten verlegt. Es con-<lb/>
&#x017F;truirt &#x017F;ich durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t unvermerkt ein ande-<lb/>
res In&#x017F;trument. So ent&#x017F;tehen meandri&#x017F;che Züge<lb/>
und unvorherge&#x017F;ehne Impul&#x017F;e zur Thätigkeit, die<lb/>
uns als Spontaneität blenden, weil wir ihre Cau-<lb/>
&#x017F;alität, und daher auch ihre bedingte Nothwen-<lb/>
digkeit nicht kennen. Es i&#x017F;t &#x017F;ogar nicht un-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0014] Theil der Seele amputirt. Ein Meer von Ideen in den Archiven der Dichtkunſt, die feinſten Spie- le des Witzes, die ſinnreichſten Erfindungen, die zarteſten Gefühle, die brennendſten Bilder der Phantaſie, die heftigſten Triebe, die die Seele unaufhaltbar zum Handeln fortreiſsen, wären nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre, der ſeine Art fortpflanzt. Ein Faſer im Gehirn erſchlafft, und der in uns wohnende Götterfunke iſt zu einem Feen-Mährchen geworden. Die groſse Welt ſpielt immerhin auf die kleine nach ihrer zufälligen Verbindung mit der- ſelben. Die empfangenen Eindrücke werden vorgeſtellt und im Selbſtbewuſstſeyn als Eigen- thum aufgenommen. Sie dringen vorwärts an die Leitſchnüre des Nervenſyſtems, bis zum Hauptbrennpunkt der Organiſation, und werden von da nach auſsen, oder nach andern Regio- nen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt. Die Auſsendinge wechſeln; es wechſeln die Reflectionspunkte in der Organiſa- tion. Dieſe werden nemlich nach Maaſsgabe der Thätigkeiten, die jene ehemals erregt haben, immerhin nach andern Orten verlegt. Es con- ſtruirt ſich durch ſich ſelbſt unvermerkt ein ande- res Inſtrument. So entſtehen meandriſche Züge und unvorhergeſehne Impulſe zur Thätigkeit, die uns als Spontaneität blenden, weil wir ihre Cau- ſalität, und daher auch ihre bedingte Nothwen- digkeit nicht kennen. Es iſt ſogar nicht un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/14
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/14>, abgerufen am 21.11.2024.