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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

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gen haben, haben wir die Kraft dazu; ausser
der Zeit bloss das Vermögen, diese Kraft schnell
in uns zu schaffen. So sind auch die Wiederer-
innerungen des Gedächtnisses und der Phantasie,
in welchen Vermögen der gesammte Schatz un-
serer Erkenntnisse aufbewahrt wird, nicht etwan
Produkte schlafender, sondern wiedergebohrner
Kräfte. Durch die Erlernung einer Wissenschaft
verschaffen wir dem Seelenorgan das Vermögen,
für die Zukunft Kräfte eigenthümlicher Art zu
erzeugen. Was sind die Vestigia rerum, die
man zur Erklärung des Gedächtnisses angenom-
men hat, wo haben sie Platz genug in dem Ge-
hirne eines Polyglotten-Schreibers, wie dauren
sie fort bey dem ununterbrochnen Wechsel des
Stoffs, was kömmt zu ihnen hinzu, dass sie
sichtbar werden? Zuverlässig sind die vestigia
rerum eben so räthselhaft, als das Problem,
welches sie enträthseln sollen. Hingegen lehrt
die Erfahrung, dass organische Thätigkeiten eine
Anlage zur Wiederkehr der nemlichen Kräfte
erzeugen, durch welche sie ursprünglich entstan-
den sind. In diesem Fall müssen dann auch die
nemlichen Vorstellungen mit der Wiederkehr der
nemlichen Kräfte wiederkehren. Es bleibt also
bloss die Frage zu beantworten übrig, wie zuwei-
len Vorstellungen entstehn, die nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
nicht entstehn
, und uns daher über ihren
Ursprung in Verlegenheit setzen? Allein wenn

gen haben, haben wir die Kraft dazu; auſser
der Zeit bloſs das Vermögen, dieſe Kraft ſchnell
in uns zu ſchaffen. So ſind auch die Wiederer-
innerungen des Gedächtniſſes und der Phantaſie,
in welchen Vermögen der geſammte Schatz un-
ſerer Erkenntniſſe aufbewahrt wird, nicht etwan
Produkte ſchlafender, ſondern wiedergebohrner
Kräfte. Durch die Erlernung einer Wiſſenſchaft
verſchaffen wir dem Seelenorgan das Vermögen,
für die Zukunft Kräfte eigenthümlicher Art zu
erzeugen. Was ſind die Veſtigia rerum, die
man zur Erklärung des Gedächtniſſes angenom-
men hat, wo haben ſie Platz genug in dem Ge-
hirne eines Polyglotten-Schreibers, wie dauren
ſie fort bey dem ununterbrochnen Wechſel des
Stoffs, was kömmt zu ihnen hinzu, daſs ſie
ſichtbar werden? Zuverläſſig ſind die veſtigia
rerum eben ſo räthſelhaft, als das Problem,
welches ſie enträthſeln ſollen. Hingegen lehrt
die Erfahrung, daſs organiſche Thätigkeiten eine
Anlage zur Wiederkehr der nemlichen Kräfte
erzeugen, durch welche ſie urſprünglich entſtan-
den ſind. In dieſem Fall müſſen dann auch die
nemlichen Vorſtellungen mit der Wiederkehr der
nemlichen Kräfte wiederkehren. Es bleibt alſo
bloſs die Frage zu beantworten übrig, wie zuwei-
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[116/0121] gen haben, haben wir die Kraft dazu; auſser der Zeit bloſs das Vermögen, dieſe Kraft ſchnell in uns zu ſchaffen. So ſind auch die Wiederer- innerungen des Gedächtniſſes und der Phantaſie, in welchen Vermögen der geſammte Schatz un- ſerer Erkenntniſſe aufbewahrt wird, nicht etwan Produkte ſchlafender, ſondern wiedergebohrner Kräfte. Durch die Erlernung einer Wiſſenſchaft verſchaffen wir dem Seelenorgan das Vermögen, für die Zukunft Kräfte eigenthümlicher Art zu erzeugen. Was ſind die Veſtigia rerum, die man zur Erklärung des Gedächtniſſes angenom- men hat, wo haben ſie Platz genug in dem Ge- hirne eines Polyglotten-Schreibers, wie dauren ſie fort bey dem ununterbrochnen Wechſel des Stoffs, was kömmt zu ihnen hinzu, daſs ſie ſichtbar werden? Zuverläſſig ſind die veſtigia rerum eben ſo räthſelhaft, als das Problem, welches ſie enträthſeln ſollen. Hingegen lehrt die Erfahrung, daſs organiſche Thätigkeiten eine Anlage zur Wiederkehr der nemlichen Kräfte erzeugen, durch welche ſie urſprünglich entſtan- den ſind. In dieſem Fall müſſen dann auch die nemlichen Vorſtellungen mit der Wiederkehr der nemlichen Kräfte wiederkehren. Es bleibt alſo bloſs die Frage zu beantworten übrig, wie zuwei- len Vorſtellungen entſtehn, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht entſtehn, und uns daher über ihren Urſprung in Verlegenheit ſetzen? Allein wenn

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Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/121>, abgerufen am 27.11.2024.