um. Und dieses Schauspiel gab er in den Zim- mern der Königin. -- Einmal als er bey einer Dame Visite machte, vergisst er bald, dass er zum Besuch gekommen ist, glaubt sich zu Hause und Besuch von dieser Dame zu haben. Der Besuch bleibt, seiner Meinung nach, lästig lange. Es ist schon tief in der Nacht, und er hat noch nicht gegessen. Er bittet also die Dame bey ihm zu Tische zu bleiben. Diese muss lachen und so laut, dass er wie aus einem Traume erwacht. -- "Sie kommen mir wie gerufen, ich ha- be sie schon lange gesucht;" sagte er zu Jemandem, der ihm im Louvre begegnete, nimmt ihn beim Arm und durchstreicht mit ihm mehrere Säle. Nach einer Viertelstunde, wie er seinen Begleiter ins Gesicht sieht, findet er, dass er sich in der Person geirrt, und demselben nichts zu sagen habe. Es giebt Menschen, die in ihre Einfälle so verliebt sind, dass sie dieselben überall ohne Besonnenheit des Orts und ihrer Verhält- nisse auskramen. Ehrhard*) kannte einen solchen Mann, aus dem kein kluges Wort mehr kam, und der zuletzt wahnwitzig wurde.
Noch erwähne ich zweier Krankheiten der Seele, der Zerstreuung und der Vertie- fung, die sich auf Anomalieen der Besonnenheit und Aufmerksamkeit beziehen. Der Zerstreute will alles beachten, fasst daher das Nothwendige
*)Wagners Beiträge 1 B. 132 S.
um. Und dieſes Schauſpiel gab er in den Zim- mern der Königin. — Einmal als er bey einer Dame Viſite machte, vergiſst er bald, daſs er zum Beſuch gekommen iſt, glaubt ſich zu Hauſe und Beſuch von dieſer Dame zu haben. Der Beſuch bleibt, ſeiner Meinung nach, läſtig lange. Es iſt ſchon tief in der Nacht, und er hat noch nicht gegeſſen. Er bittet alſo die Dame bey ihm zu Tiſche zu bleiben. Dieſe muſs lachen und ſo laut, daſs er wie aus einem Traume erwacht. — „Sie kommen mir wie gerufen, ich ha- be ſie ſchon lange geſucht;“ ſagte er zu Jemandem, der ihm im Louvre begegnete, nimmt ihn beim Arm und durchſtreicht mit ihm mehrere Säle. Nach einer Viertelſtunde, wie er ſeinen Begleiter ins Geſicht ſieht, findet er, daſs er ſich in der Perſon geirrt, und demſelben nichts zu ſagen habe. Es giebt Menſchen, die in ihre Einfälle ſo verliebt ſind, daſs ſie dieſelben überall ohne Beſonnenheit des Orts und ihrer Verhält- niſſe auskramen. Ehrhard*) kannte einen ſolchen Mann, aus dem kein kluges Wort mehr kam, und der zuletzt wahnwitzig wurde.
Noch erwähne ich zweier Krankheiten der Seele, der Zerſtreuung und der Vertie- fung, die ſich auf Anomalieen der Beſonnenheit und Aufmerkſamkeit beziehen. Der Zerſtreute will alles beachten, faſst daher das Nothwendige
*)Wagners Beiträge 1 B. 132 S.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0112"n="107"/>
um. Und dieſes Schauſpiel gab er in den Zim-<lb/>
mern der Königin. — Einmal als er bey einer<lb/>
Dame Viſite machte, vergiſst er bald, daſs er zum<lb/>
Beſuch gekommen iſt, glaubt ſich zu Hauſe und<lb/>
Beſuch von dieſer Dame zu haben. Der Beſuch<lb/>
bleibt, ſeiner Meinung nach, läſtig lange. Es iſt<lb/>ſchon tief in der Nacht, und er hat noch nicht<lb/>
gegeſſen. Er bittet alſo die Dame bey ihm zu<lb/>
Tiſche zu bleiben. Dieſe muſs lachen und ſo<lb/>
laut, daſs er wie aus einem Traume erwacht. —<lb/>„<hirendition="#g">Sie kommen mir wie gerufen, ich ha-<lb/>
be ſie ſchon lange geſucht</hi>;“ſagte er zu<lb/>
Jemandem, der ihm im <hirendition="#g">Louvre</hi> begegnete,<lb/>
nimmt ihn beim Arm und durchſtreicht mit ihm<lb/>
mehrere Säle. Nach einer Viertelſtunde, wie er<lb/>ſeinen Begleiter ins Geſicht ſieht, findet er, daſs<lb/>
er ſich in der Perſon geirrt, und demſelben nichts<lb/>
zu ſagen habe. Es giebt Menſchen, die in ihre<lb/>
Einfälle ſo verliebt ſind, daſs ſie dieſelben überall<lb/>
ohne Beſonnenheit des Orts und ihrer Verhält-<lb/>
niſſe auskramen. <hirendition="#g">Ehrhard</hi><noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#g">Wagners</hi> Beiträge 1 B. 132 S.</note> kannte einen<lb/>ſolchen Mann, aus dem kein kluges Wort mehr<lb/>
kam, und der zuletzt wahnwitzig wurde.</p><lb/><p>Noch erwähne ich zweier Krankheiten der<lb/>
Seele, der <hirendition="#g">Zerſtreuung</hi> und der <hirendition="#g">Vertie-<lb/>
fung</hi>, die ſich auf Anomalieen der Beſonnenheit<lb/>
und Aufmerkſamkeit beziehen. Der Zerſtreute<lb/>
will alles beachten, faſst daher das Nothwendige<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[107/0112]
um. Und dieſes Schauſpiel gab er in den Zim-
mern der Königin. — Einmal als er bey einer
Dame Viſite machte, vergiſst er bald, daſs er zum
Beſuch gekommen iſt, glaubt ſich zu Hauſe und
Beſuch von dieſer Dame zu haben. Der Beſuch
bleibt, ſeiner Meinung nach, läſtig lange. Es iſt
ſchon tief in der Nacht, und er hat noch nicht
gegeſſen. Er bittet alſo die Dame bey ihm zu
Tiſche zu bleiben. Dieſe muſs lachen und ſo
laut, daſs er wie aus einem Traume erwacht. —
„Sie kommen mir wie gerufen, ich ha-
be ſie ſchon lange geſucht;“ ſagte er zu
Jemandem, der ihm im Louvre begegnete,
nimmt ihn beim Arm und durchſtreicht mit ihm
mehrere Säle. Nach einer Viertelſtunde, wie er
ſeinen Begleiter ins Geſicht ſieht, findet er, daſs
er ſich in der Perſon geirrt, und demſelben nichts
zu ſagen habe. Es giebt Menſchen, die in ihre
Einfälle ſo verliebt ſind, daſs ſie dieſelben überall
ohne Beſonnenheit des Orts und ihrer Verhält-
niſſe auskramen. Ehrhard *) kannte einen
ſolchen Mann, aus dem kein kluges Wort mehr
kam, und der zuletzt wahnwitzig wurde.
Noch erwähne ich zweier Krankheiten der
Seele, der Zerſtreuung und der Vertie-
fung, die ſich auf Anomalieen der Beſonnenheit
und Aufmerkſamkeit beziehen. Der Zerſtreute
will alles beachten, faſst daher das Nothwendige
*) Wagners Beiträge 1 B. 132 S.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/112>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.