Reich, Moses Josef: Mammon im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–45. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Abschiede ihren Mund zu küssen, nach Soldatenbrauch -- wie süß schmeckte dieser Kuß nach dem des alten Sommer! sie riß sich zwar verschämt los und drohte mit dem Finger, als sie aber Martin recht sehr bat, doch ja Abends zum Vater Ignaz zu kommen wie früher, da sagte sie nach kurzem Bedenken: Ja! und war in den Hof entsprungen. Sie gab nun dem Schwesterchen das Gewünschte in ein blaues Tuch eingewickelt und entließ es mit dem Auftrage, nicht wiederzukommen, sie werde schon Alles hinaufschicken. Ihr Gewissen entschuldigte Trude mit dem Befehle ihres Pflegevaters. -- Abends fand sie sich ihrem Versprechen gemäß beim Schuster Ignaz ein; Martin war auch ihretwegen früher heimgekommen; er war den ganzen Tag bei seinen ehemaligen Kameraden herumgestiegen, sich ihnen zu zeigen und an ihrem Staunen sowohl als auch an ihren eigenen verkommenen, arbeitgeschwärzten Gestalten zu ergötzen, denn Martin's Hauptcharakterzug war unmäßige Eitelkeit. -- Beim Picken des altergeschwärzten Seigers, beim lautlosen Bohren der väterlichen Ahle saß Martin auf dem vornehmen, rothangestrichenen Schemel unterhalb der Schusterbank, Trude aber ihm gegenüber auf ihrem Dreifuß; er war noch ganz in Uniform, die Knöpfe funkelten im Lampenlichte, seine blauen Augen leuchteten, während er sich den blonden Schnurrbart strich und vor geneigten Ohren die Scene Othello's vor Desdemona aufführte, mit dem Unterschiede, daß er, als guter Christ, dem der Himmel pflichtgemäß offen stand, sich hin und Abschiede ihren Mund zu küssen, nach Soldatenbrauch — wie süß schmeckte dieser Kuß nach dem des alten Sommer! sie riß sich zwar verschämt los und drohte mit dem Finger, als sie aber Martin recht sehr bat, doch ja Abends zum Vater Ignaz zu kommen wie früher, da sagte sie nach kurzem Bedenken: Ja! und war in den Hof entsprungen. Sie gab nun dem Schwesterchen das Gewünschte in ein blaues Tuch eingewickelt und entließ es mit dem Auftrage, nicht wiederzukommen, sie werde schon Alles hinaufschicken. Ihr Gewissen entschuldigte Trude mit dem Befehle ihres Pflegevaters. — Abends fand sie sich ihrem Versprechen gemäß beim Schuster Ignaz ein; Martin war auch ihretwegen früher heimgekommen; er war den ganzen Tag bei seinen ehemaligen Kameraden herumgestiegen, sich ihnen zu zeigen und an ihrem Staunen sowohl als auch an ihren eigenen verkommenen, arbeitgeschwärzten Gestalten zu ergötzen, denn Martin's Hauptcharakterzug war unmäßige Eitelkeit. — Beim Picken des altergeschwärzten Seigers, beim lautlosen Bohren der väterlichen Ahle saß Martin auf dem vornehmen, rothangestrichenen Schemel unterhalb der Schusterbank, Trude aber ihm gegenüber auf ihrem Dreifuß; er war noch ganz in Uniform, die Knöpfe funkelten im Lampenlichte, seine blauen Augen leuchteten, während er sich den blonden Schnurrbart strich und vor geneigten Ohren die Scene Othello's vor Desdemona aufführte, mit dem Unterschiede, daß er, als guter Christ, dem der Himmel pflichtgemäß offen stand, sich hin und <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0036"/> Abschiede ihren Mund zu küssen, nach Soldatenbrauch — wie süß schmeckte dieser Kuß nach dem des alten Sommer! sie riß sich zwar verschämt los und drohte mit dem Finger, als sie aber Martin recht sehr bat, doch ja Abends zum Vater Ignaz zu kommen wie früher, da sagte sie nach kurzem Bedenken: Ja! und war in den Hof entsprungen. Sie gab nun dem Schwesterchen das Gewünschte in ein blaues Tuch eingewickelt und entließ es mit dem Auftrage, nicht wiederzukommen, sie werde schon Alles hinaufschicken. Ihr Gewissen entschuldigte Trude mit dem Befehle ihres Pflegevaters. —</p><lb/> <p>Abends fand sie sich ihrem Versprechen gemäß beim Schuster Ignaz ein; Martin war auch ihretwegen früher heimgekommen; er war den ganzen Tag bei seinen ehemaligen Kameraden herumgestiegen, sich ihnen zu zeigen und an ihrem Staunen sowohl als auch an ihren eigenen verkommenen, arbeitgeschwärzten Gestalten zu ergötzen, denn Martin's Hauptcharakterzug war unmäßige Eitelkeit. — Beim Picken des altergeschwärzten Seigers, beim lautlosen Bohren der väterlichen Ahle saß Martin auf dem vornehmen, rothangestrichenen Schemel unterhalb der Schusterbank, Trude aber ihm gegenüber auf ihrem Dreifuß; er war noch ganz in Uniform, die Knöpfe funkelten im Lampenlichte, seine blauen Augen leuchteten, während er sich den blonden Schnurrbart strich und vor geneigten Ohren die Scene Othello's vor Desdemona aufführte, mit dem Unterschiede, daß er, als guter Christ, dem der Himmel pflichtgemäß offen stand, sich hin und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0036]
Abschiede ihren Mund zu küssen, nach Soldatenbrauch — wie süß schmeckte dieser Kuß nach dem des alten Sommer! sie riß sich zwar verschämt los und drohte mit dem Finger, als sie aber Martin recht sehr bat, doch ja Abends zum Vater Ignaz zu kommen wie früher, da sagte sie nach kurzem Bedenken: Ja! und war in den Hof entsprungen. Sie gab nun dem Schwesterchen das Gewünschte in ein blaues Tuch eingewickelt und entließ es mit dem Auftrage, nicht wiederzukommen, sie werde schon Alles hinaufschicken. Ihr Gewissen entschuldigte Trude mit dem Befehle ihres Pflegevaters. —
Abends fand sie sich ihrem Versprechen gemäß beim Schuster Ignaz ein; Martin war auch ihretwegen früher heimgekommen; er war den ganzen Tag bei seinen ehemaligen Kameraden herumgestiegen, sich ihnen zu zeigen und an ihrem Staunen sowohl als auch an ihren eigenen verkommenen, arbeitgeschwärzten Gestalten zu ergötzen, denn Martin's Hauptcharakterzug war unmäßige Eitelkeit. — Beim Picken des altergeschwärzten Seigers, beim lautlosen Bohren der väterlichen Ahle saß Martin auf dem vornehmen, rothangestrichenen Schemel unterhalb der Schusterbank, Trude aber ihm gegenüber auf ihrem Dreifuß; er war noch ganz in Uniform, die Knöpfe funkelten im Lampenlichte, seine blauen Augen leuchteten, während er sich den blonden Schnurrbart strich und vor geneigten Ohren die Scene Othello's vor Desdemona aufführte, mit dem Unterschiede, daß er, als guter Christ, dem der Himmel pflichtgemäß offen stand, sich hin und
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Zitationshilfe: | Reich, Moses Josef: Mammon im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–45. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reich_mammon_1910/36>, abgerufen am 16.07.2024. |