Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 4. Berlin, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Seitdem der menschliche Geist in der Gemeinschaft der
europäischen Nationen eine sichere Grundlage der Cultur ge-
wonnen hat, unterscheiden wir lange Zeiträume wo er, durch-
drungen von den einmal ergriffenen Prinzipien, und damit
beschäftigt dieselben in Staat und Kirche, Literatur und Kunst
zur Erscheinung zu bringen, sich in ruhiger Stätigkeit fort-
entwickelt. Das Widersprechende stößt er alsdann von sich:
wenn er Abweichungen duldet, so müssen sie sich doch in ei-
ner höhern Einheit ausgleichen. Sollte aber von diesen Epo-
chen irgend eine, wie umfassend auch ihre Bestrebungen seyn
mögen, die Triebe des Geistes alle zur Entfaltung bringen
können? Wir dürfen vielleicht sagen: eben darum folgen die
Zeiten auf einander, damit in allen geschehe was in keiner
einzelnen möglich ist, damit die ganze Fülle des dem mensch-
lichen Geschlechte von der Gottheit eingehauchten geistigen Le-
bens in der Reihe der Jahrhunderte zu Tage komme. Nach-
dem die Geschichte den stätigen Fortgang der Entwickelung
eine Weile begleitet hat, findet sie sich plötzlich in der Mitte
einer allgemeinen Bewegung. Die Geister fühlen gleichsam
die Grenze, an welche sie auf dem bisher eingehaltenen Wege

1*

Seitdem der menſchliche Geiſt in der Gemeinſchaft der
europäiſchen Nationen eine ſichere Grundlage der Cultur ge-
wonnen hat, unterſcheiden wir lange Zeiträume wo er, durch-
drungen von den einmal ergriffenen Prinzipien, und damit
beſchäftigt dieſelben in Staat und Kirche, Literatur und Kunſt
zur Erſcheinung zu bringen, ſich in ruhiger Stätigkeit fort-
entwickelt. Das Widerſprechende ſtößt er alsdann von ſich:
wenn er Abweichungen duldet, ſo müſſen ſie ſich doch in ei-
ner höhern Einheit ausgleichen. Sollte aber von dieſen Epo-
chen irgend eine, wie umfaſſend auch ihre Beſtrebungen ſeyn
mögen, die Triebe des Geiſtes alle zur Entfaltung bringen
können? Wir dürfen vielleicht ſagen: eben darum folgen die
Zeiten auf einander, damit in allen geſchehe was in keiner
einzelnen möglich iſt, damit die ganze Fülle des dem menſch-
lichen Geſchlechte von der Gottheit eingehauchten geiſtigen Le-
bens in der Reihe der Jahrhunderte zu Tage komme. Nach-
dem die Geſchichte den ſtätigen Fortgang der Entwickelung
eine Weile begleitet hat, findet ſie ſich plötzlich in der Mitte
einer allgemeinen Bewegung. Die Geiſter fühlen gleichſam
die Grenze, an welche ſie auf dem bisher eingehaltenen Wege

1*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0015" n="[3]"/>
        <p><hi rendition="#in">S</hi>eitdem der men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t in der Gemein&#x017F;chaft der<lb/>
europäi&#x017F;chen Nationen eine &#x017F;ichere Grundlage der Cultur ge-<lb/>
wonnen hat, unter&#x017F;cheiden wir lange Zeiträume wo er, durch-<lb/>
drungen von den einmal ergriffenen Prinzipien, und damit<lb/>
be&#x017F;chäftigt die&#x017F;elben in Staat und Kirche, Literatur und Kun&#x017F;t<lb/>
zur Er&#x017F;cheinung zu bringen, &#x017F;ich in ruhiger Stätigkeit fort-<lb/>
entwickelt. Das Wider&#x017F;prechende &#x017F;tößt er alsdann von &#x017F;ich:<lb/>
wenn er Abweichungen duldet, &#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich doch in ei-<lb/>
ner höhern Einheit ausgleichen. Sollte aber von die&#x017F;en Epo-<lb/>
chen irgend eine, wie umfa&#x017F;&#x017F;end auch ihre Be&#x017F;trebungen &#x017F;eyn<lb/>
mögen, die Triebe des Gei&#x017F;tes alle zur Entfaltung bringen<lb/>
können? Wir dürfen vielleicht &#x017F;agen: eben darum folgen die<lb/>
Zeiten auf einander, damit in allen ge&#x017F;chehe was in keiner<lb/>
einzelnen möglich i&#x017F;t, damit die ganze Fülle des dem men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Ge&#x017F;chlechte von der Gottheit eingehauchten gei&#x017F;tigen Le-<lb/>
bens in der Reihe der Jahrhunderte zu Tage komme. Nach-<lb/>
dem die Ge&#x017F;chichte den &#x017F;tätigen Fortgang der Entwickelung<lb/>
eine Weile begleitet hat, findet &#x017F;ie &#x017F;ich plötzlich in der Mitte<lb/>
einer allgemeinen Bewegung. Die Gei&#x017F;ter fühlen gleich&#x017F;am<lb/>
die Grenze, an welche &#x017F;ie auf dem bisher eingehaltenen Wege<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">1*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[3]/0015] Seitdem der menſchliche Geiſt in der Gemeinſchaft der europäiſchen Nationen eine ſichere Grundlage der Cultur ge- wonnen hat, unterſcheiden wir lange Zeiträume wo er, durch- drungen von den einmal ergriffenen Prinzipien, und damit beſchäftigt dieſelben in Staat und Kirche, Literatur und Kunſt zur Erſcheinung zu bringen, ſich in ruhiger Stätigkeit fort- entwickelt. Das Widerſprechende ſtößt er alsdann von ſich: wenn er Abweichungen duldet, ſo müſſen ſie ſich doch in ei- ner höhern Einheit ausgleichen. Sollte aber von dieſen Epo- chen irgend eine, wie umfaſſend auch ihre Beſtrebungen ſeyn mögen, die Triebe des Geiſtes alle zur Entfaltung bringen können? Wir dürfen vielleicht ſagen: eben darum folgen die Zeiten auf einander, damit in allen geſchehe was in keiner einzelnen möglich iſt, damit die ganze Fülle des dem menſch- lichen Geſchlechte von der Gottheit eingehauchten geiſtigen Le- bens in der Reihe der Jahrhunderte zu Tage komme. Nach- dem die Geſchichte den ſtätigen Fortgang der Entwickelung eine Weile begleitet hat, findet ſie ſich plötzlich in der Mitte einer allgemeinen Bewegung. Die Geiſter fühlen gleichſam die Grenze, an welche ſie auf dem bisher eingehaltenen Wege 1*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation04_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation04_1843/15
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 4. Berlin, 1843, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation04_1843/15>, abgerufen am 24.11.2024.