Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.Unruhen in Wittenberg. Er verwarf die Veränderungen, die man gemacht, nichtan und für sich, noch die Lehre, aus der sie geflossen; auch hütete er sich wohl, die Wortführer der Neuerung persönlich zu verletzen, auf sie zu schelten; er urtheilte nur, man sey zu rasch verfahren, man habe dadurch Ärgerniß bei den Schwachen verursacht und das Gebot der Liebe nicht gehalten. Er gab zu, daß es Gebräuche gebe, die man wohl durchaus abschaffen müsse, z. B. die Privat- messen, obwohl man auch dabei alle Gewaltsamkeit, alles Ärgerniß zu vermeiden habe; von den meisten andern aber sey es für einen Christen gleichgültig, ob man sie beobachte oder nicht. Es komme so viel nicht darauf an, ob man das Abendmahl unter Einer Gestalt nehme oder unter bei- den; ob man besondre oder allgemeine Beichte vorziehe; in dem Kloster bleibe oder es verlasse; Bilder in den Kir- chen habe, die Fasten halte oder auch nicht; darüber Ge- setze zu machen, Lärmen zu veranlassen, schwächern Mit- brüdern Anstoß zu geben, sey eher schädlich als heilsam, und widerstreite dem Gebote der Liebe. -- Die Gefahr der tumultuarischen Neuerung lag darin, daß sie sich für noth- wendig, für die unmittelbare Forderung des ächten Chri- stenthums erklärte; beinahe eben so, wie man auf der päpst- lichen Seite jedes kirchliche Gebot für einen unantastbaren Ausfluß der höchsten Idee ausgab, mit der man auch das gesammte bürgerliche Leben in engsten Zusammenhang ge- setzt hatte. Es war ein unendlicher Gewinn, zu zeigen, daß die Religion ein freies Gebiet anerkenne, welches sie nicht unmittelbar zu beherrschen brauche, wo sie sich nicht um die Leitung jeder Einzelnheit zu bekümmern habe. Luther Unruhen in Wittenberg. Er verwarf die Veränderungen, die man gemacht, nichtan und für ſich, noch die Lehre, aus der ſie gefloſſen; auch hütete er ſich wohl, die Wortführer der Neuerung perſönlich zu verletzen, auf ſie zu ſchelten; er urtheilte nur, man ſey zu raſch verfahren, man habe dadurch Ärgerniß bei den Schwachen verurſacht und das Gebot der Liebe nicht gehalten. Er gab zu, daß es Gebräuche gebe, die man wohl durchaus abſchaffen müſſe, z. B. die Privat- meſſen, obwohl man auch dabei alle Gewaltſamkeit, alles Ärgerniß zu vermeiden habe; von den meiſten andern aber ſey es für einen Chriſten gleichgültig, ob man ſie beobachte oder nicht. Es komme ſo viel nicht darauf an, ob man das Abendmahl unter Einer Geſtalt nehme oder unter bei- den; ob man beſondre oder allgemeine Beichte vorziehe; in dem Kloſter bleibe oder es verlaſſe; Bilder in den Kir- chen habe, die Faſten halte oder auch nicht; darüber Ge- ſetze zu machen, Lärmen zu veranlaſſen, ſchwächern Mit- brüdern Anſtoß zu geben, ſey eher ſchädlich als heilſam, und widerſtreite dem Gebote der Liebe. — Die Gefahr der tumultuariſchen Neuerung lag darin, daß ſie ſich für noth- wendig, für die unmittelbare Forderung des ächten Chri- ſtenthums erklärte; beinahe eben ſo, wie man auf der päpſt- lichen Seite jedes kirchliche Gebot für einen unantaſtbaren Ausfluß der höchſten Idee ausgab, mit der man auch das geſammte bürgerliche Leben in engſten Zuſammenhang ge- ſetzt hatte. Es war ein unendlicher Gewinn, zu zeigen, daß die Religion ein freies Gebiet anerkenne, welches ſie nicht unmittelbar zu beherrſchen brauche, wo ſie ſich nicht um die Leitung jeder Einzelnheit zu bekümmern habe. Luther <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0041" n="31"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Unruhen in Wittenberg</hi>.</fw><lb/> Er verwarf die Veränderungen, die man gemacht, nicht<lb/> an und für ſich, noch die Lehre, aus der ſie gefloſſen;<lb/> auch hütete er ſich wohl, die Wortführer der Neuerung<lb/> perſönlich zu verletzen, auf ſie zu ſchelten; er urtheilte nur,<lb/> man ſey zu raſch verfahren, man habe dadurch Ärgerniß<lb/> bei den Schwachen verurſacht und das Gebot der Liebe<lb/> nicht gehalten. Er gab zu, daß es Gebräuche gebe, die<lb/> man wohl durchaus abſchaffen müſſe, z. 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Unruhen in Wittenberg.
Er verwarf die Veränderungen, die man gemacht, nicht
an und für ſich, noch die Lehre, aus der ſie gefloſſen;
auch hütete er ſich wohl, die Wortführer der Neuerung
perſönlich zu verletzen, auf ſie zu ſchelten; er urtheilte nur,
man ſey zu raſch verfahren, man habe dadurch Ärgerniß
bei den Schwachen verurſacht und das Gebot der Liebe
nicht gehalten. Er gab zu, daß es Gebräuche gebe, die
man wohl durchaus abſchaffen müſſe, z. B. die Privat-
meſſen, obwohl man auch dabei alle Gewaltſamkeit, alles
Ärgerniß zu vermeiden habe; von den meiſten andern aber
ſey es für einen Chriſten gleichgültig, ob man ſie beobachte
oder nicht. Es komme ſo viel nicht darauf an, ob man
das Abendmahl unter Einer Geſtalt nehme oder unter bei-
den; ob man beſondre oder allgemeine Beichte vorziehe;
in dem Kloſter bleibe oder es verlaſſe; Bilder in den Kir-
chen habe, die Faſten halte oder auch nicht; darüber Ge-
ſetze zu machen, Lärmen zu veranlaſſen, ſchwächern Mit-
brüdern Anſtoß zu geben, ſey eher ſchädlich als heilſam,
und widerſtreite dem Gebote der Liebe. — Die Gefahr der
tumultuariſchen Neuerung lag darin, daß ſie ſich für noth-
wendig, für die unmittelbare Forderung des ächten Chri-
ſtenthums erklärte; beinahe eben ſo, wie man auf der päpſt-
lichen Seite jedes kirchliche Gebot für einen unantaſtbaren
Ausfluß der höchſten Idee ausgab, mit der man auch das
geſammte bürgerliche Leben in engſten Zuſammenhang ge-
ſetzt hatte. Es war ein unendlicher Gewinn, zu zeigen,
daß die Religion ein freies Gebiet anerkenne, welches ſie
nicht unmittelbar zu beherrſchen brauche, wo ſie ſich nicht
um die Leitung jeder Einzelnheit zu bekümmern habe. Luther
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