weder deutsch noch lateinisch, sondern beides und keins von beiden. 1
Denn da die Scholastik der Universitäten, welche bis- her den Elementarunterricht beherrscht hatte, bei ihrer ge- wohnten Ausdrucksweise verblieb, so mußte zwischen der neu aufkommenden humanistischen und der alten Methode eine Reibung entstehn, die dann nicht verfehlen konnte, von dem allgemeinen Element der Sprache her auch andere Gebiete zu ergreifen.
Eben von diesem Moment gieng ein Autor aus, der es zum Geschäft seines Lebens machte, die Scholastik der Universitäten und Klöster anzugreifen, der erste große Au- tor der Opposition in modernem Sinne, ein Niederdeut- scher, Erasmus von Rotterdam.
Überblicken wir die ersten dreißig Lebensjahre des Erasmus, so war er in unaufhörlichem innern Widerspruch mit dem Kloster und Studien-Wesen jener Zeit aufgewach- sen und geworden was er war. Man könnte sagen: er war gezeugt und geboren in diesem Gegensatz: sein Vater hatte sich mit seiner Mutter nicht vermählen dürfen, weil er für das Kloster bestimmt war. Ihn selbst hatte man auf keine Universität ziehen lassen, wie er wünschte, sondern in einer unvollkommenen Klosteranstalt festgehalten, die ihm sehr bald nicht mehr genügte; ja man hatte ihn durch allerlei Künste mit der Zeit vermocht, selbst in ein Kloster zu treten und die Gelübde abzulegen. Erst dann aber fühlte er ihren
1 Geiler Introductorium II, c. Quale est illud eorum la- tinum, quo utuntur etiam dum sederint in sede majestatis suae in doctoralis cathedra lecturae! --
Zweites Buch. Erſtes Capitel.
weder deutſch noch lateiniſch, ſondern beides und keins von beiden. 1
Denn da die Scholaſtik der Univerſitäten, welche bis- her den Elementarunterricht beherrſcht hatte, bei ihrer ge- wohnten Ausdrucksweiſe verblieb, ſo mußte zwiſchen der neu aufkommenden humaniſtiſchen und der alten Methode eine Reibung entſtehn, die dann nicht verfehlen konnte, von dem allgemeinen Element der Sprache her auch andere Gebiete zu ergreifen.
Eben von dieſem Moment gieng ein Autor aus, der es zum Geſchäft ſeines Lebens machte, die Scholaſtik der Univerſitäten und Klöſter anzugreifen, der erſte große Au- tor der Oppoſition in modernem Sinne, ein Niederdeut- ſcher, Erasmus von Rotterdam.
Überblicken wir die erſten dreißig Lebensjahre des Erasmus, ſo war er in unaufhörlichem innern Widerſpruch mit dem Kloſter und Studien-Weſen jener Zeit aufgewach- ſen und geworden was er war. Man könnte ſagen: er war gezeugt und geboren in dieſem Gegenſatz: ſein Vater hatte ſich mit ſeiner Mutter nicht vermählen dürfen, weil er für das Kloſter beſtimmt war. Ihn ſelbſt hatte man auf keine Univerſität ziehen laſſen, wie er wünſchte, ſondern in einer unvollkommenen Kloſteranſtalt feſtgehalten, die ihm ſehr bald nicht mehr genügte; ja man hatte ihn durch allerlei Künſte mit der Zeit vermocht, ſelbſt in ein Kloſter zu treten und die Gelübde abzulegen. Erſt dann aber fühlte er ihren
1 Geiler Introductorium II, c. Quale est illud eorum la- tinum, quo utuntur etiam dum sederint in sede majestatis suae in doctoralis cathedra lecturae! —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0282"n="264"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Zweites Buch. Erſtes Capitel</hi>.</fw><lb/>
weder deutſch noch lateiniſch, ſondern beides und keins von<lb/>
beiden. <noteplace="foot"n="1">Geiler <hirendition="#aq">Introductorium II, c. Quale est illud eorum la-<lb/>
tinum, quo utuntur etiam dum sederint in sede majestatis suae<lb/>
in doctoralis cathedra lecturae</hi>! —</note></p><lb/><p>Denn da die Scholaſtik der Univerſitäten, welche bis-<lb/>
her den Elementarunterricht beherrſcht hatte, bei ihrer ge-<lb/>
wohnten Ausdrucksweiſe verblieb, ſo mußte zwiſchen der<lb/>
neu aufkommenden humaniſtiſchen und der alten Methode<lb/>
eine Reibung entſtehn, die dann nicht verfehlen konnte,<lb/>
von dem allgemeinen Element der Sprache her auch andere<lb/>
Gebiete zu ergreifen.</p><lb/><p>Eben von dieſem Moment gieng ein Autor aus, der<lb/>
es zum Geſchäft ſeines Lebens machte, die Scholaſtik der<lb/>
Univerſitäten und Klöſter anzugreifen, der erſte große Au-<lb/>
tor der Oppoſition in modernem Sinne, ein Niederdeut-<lb/>ſcher, Erasmus von Rotterdam.</p><lb/><p>Überblicken wir die erſten dreißig Lebensjahre des<lb/>
Erasmus, ſo war er in unaufhörlichem innern Widerſpruch<lb/>
mit dem Kloſter und Studien-Weſen jener Zeit aufgewach-<lb/>ſen und geworden was er war. Man könnte ſagen: er<lb/>
war gezeugt und geboren in dieſem Gegenſatz: ſein Vater<lb/>
hatte ſich mit ſeiner Mutter nicht vermählen dürfen, weil<lb/>
er für das Kloſter beſtimmt war. Ihn ſelbſt hatte man auf<lb/>
keine Univerſität ziehen laſſen, wie er wünſchte, ſondern in<lb/>
einer unvollkommenen Kloſteranſtalt feſtgehalten, die ihm ſehr<lb/>
bald nicht mehr genügte; ja man hatte ihn durch allerlei<lb/>
Künſte mit der Zeit vermocht, ſelbſt in ein Kloſter zu treten<lb/>
und die Gelübde abzulegen. Erſt dann aber fühlte er ihren<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[264/0282]
Zweites Buch. Erſtes Capitel.
weder deutſch noch lateiniſch, ſondern beides und keins von
beiden. 1
Denn da die Scholaſtik der Univerſitäten, welche bis-
her den Elementarunterricht beherrſcht hatte, bei ihrer ge-
wohnten Ausdrucksweiſe verblieb, ſo mußte zwiſchen der
neu aufkommenden humaniſtiſchen und der alten Methode
eine Reibung entſtehn, die dann nicht verfehlen konnte,
von dem allgemeinen Element der Sprache her auch andere
Gebiete zu ergreifen.
Eben von dieſem Moment gieng ein Autor aus, der
es zum Geſchäft ſeines Lebens machte, die Scholaſtik der
Univerſitäten und Klöſter anzugreifen, der erſte große Au-
tor der Oppoſition in modernem Sinne, ein Niederdeut-
ſcher, Erasmus von Rotterdam.
Überblicken wir die erſten dreißig Lebensjahre des
Erasmus, ſo war er in unaufhörlichem innern Widerſpruch
mit dem Kloſter und Studien-Weſen jener Zeit aufgewach-
ſen und geworden was er war. Man könnte ſagen: er
war gezeugt und geboren in dieſem Gegenſatz: ſein Vater
hatte ſich mit ſeiner Mutter nicht vermählen dürfen, weil
er für das Kloſter beſtimmt war. Ihn ſelbſt hatte man auf
keine Univerſität ziehen laſſen, wie er wünſchte, ſondern in
einer unvollkommenen Kloſteranſtalt feſtgehalten, die ihm ſehr
bald nicht mehr genügte; ja man hatte ihn durch allerlei
Künſte mit der Zeit vermocht, ſelbſt in ein Kloſter zu treten
und die Gelübde abzulegen. Erſt dann aber fühlte er ihren
1 Geiler Introductorium II, c. Quale est illud eorum la-
tinum, quo utuntur etiam dum sederint in sede majestatis suae
in doctoralis cathedra lecturae! —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/282>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.