Ich denke nicht mich zu täuschen oder die Schranken der Historie zu überschreiten, wenn ich an dieser Stelle ein all- gemeines Gesetz des Lebens wahrzunehmen glaube.
Unzweifelhaft ist: es sind immer Kräfte des lebendi- gen Geistes welche die Welt so von Grund aus bewegen. Vorbereitet durch die vorangegangenen Jahrhunderte, erhe- ben sie sich zu ihrer Zeit, hervorgerufen durch starke und in- nerlich mächtige Naturen, aus den unerforschten Tiefen des menschlichen Geistes. Es ist ihr Wesen daß sie die Welt an sich zu reißen, zu überwältigen suchen. Je mehr es ih- nen aber damit gelingt, je größer der Kreis wird den sie um- fassen, desto mehr treffen sie mit eigenthümlichem unabhän- gigem Leben zusammen, das sie nicht so ganz und gar zu besiegen, in sich aufzulösen vermögen. Daher geschieht es, denn in unaufhörlichem Werden sind sie begriffen, daß sie in sich selbst eine Umwandlung erfahren. Indem sie das Fremdartige umfassen, nehmen sie schon einen Theil seines Wesens in sich auf: es entwickeln sich Richtungen in ihnen, Momente des Daseyns, die mit ihrer Idee nicht selten in Widerspruch stehn. Es kann aber nicht anders seyn als
Ich denke nicht mich zu taͤuſchen oder die Schranken der Hiſtorie zu uͤberſchreiten, wenn ich an dieſer Stelle ein all- gemeines Geſetz des Lebens wahrzunehmen glaube.
Unzweifelhaft iſt: es ſind immer Kraͤfte des lebendi- gen Geiſtes welche die Welt ſo von Grund aus bewegen. Vorbereitet durch die vorangegangenen Jahrhunderte, erhe- ben ſie ſich zu ihrer Zeit, hervorgerufen durch ſtarke und in- nerlich maͤchtige Naturen, aus den unerforſchten Tiefen des menſchlichen Geiſtes. Es iſt ihr Weſen daß ſie die Welt an ſich zu reißen, zu uͤberwaͤltigen ſuchen. Je mehr es ih- nen aber damit gelingt, je groͤßer der Kreis wird den ſie um- faſſen, deſto mehr treffen ſie mit eigenthuͤmlichem unabhaͤn- gigem Leben zuſammen, das ſie nicht ſo ganz und gar zu beſiegen, in ſich aufzuloͤſen vermoͤgen. Daher geſchieht es, denn in unaufhoͤrlichem Werden ſind ſie begriffen, daß ſie in ſich ſelbſt eine Umwandlung erfahren. Indem ſie das Fremdartige umfaſſen, nehmen ſie ſchon einen Theil ſeines Weſens in ſich auf: es entwickeln ſich Richtungen in ihnen, Momente des Daſeyns, die mit ihrer Idee nicht ſelten in Widerſpruch ſtehn. Es kann aber nicht anders ſeyn als
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Ich denke nicht mich zu taͤuſchen oder die Schranken der
Hiſtorie zu uͤberſchreiten, wenn ich an dieſer Stelle ein all-
gemeines Geſetz des Lebens wahrzunehmen glaube.
Unzweifelhaft iſt: es ſind immer Kraͤfte des lebendi-
gen Geiſtes welche die Welt ſo von Grund aus bewegen.
Vorbereitet durch die vorangegangenen Jahrhunderte, erhe-
ben ſie ſich zu ihrer Zeit, hervorgerufen durch ſtarke und in-
nerlich maͤchtige Naturen, aus den unerforſchten Tiefen des
menſchlichen Geiſtes. Es iſt ihr Weſen daß ſie die Welt
an ſich zu reißen, zu uͤberwaͤltigen ſuchen. Je mehr es ih-
nen aber damit gelingt, je groͤßer der Kreis wird den ſie um-
faſſen, deſto mehr treffen ſie mit eigenthuͤmlichem unabhaͤn-
gigem Leben zuſammen, das ſie nicht ſo ganz und gar zu
beſiegen, in ſich aufzuloͤſen vermoͤgen. Daher geſchieht es,
denn in unaufhoͤrlichem Werden ſind ſie begriffen, daß ſie
in ſich ſelbſt eine Umwandlung erfahren. Indem ſie das
Fremdartige umfaſſen, nehmen ſie ſchon einen Theil ſeines
Weſens in ſich auf: es entwickeln ſich Richtungen in ihnen,
Momente des Daſeyns, die mit ihrer Idee nicht ſelten in
Widerſpruch ſtehn. Es kann aber nicht anders ſeyn als
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Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 2. Berlin, 1836, S. [363]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste02_1836/375>, abgerufen am 22.11.2024.
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