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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

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dar. Zum Opfer bestimmt, sagt sie zu ihrer Mutter: "Ich klage nicht um mich, daß ich sterben soll. Das Ende meiner Leiden ist mir willkommen! Aber daß du, Mutter, in deinem Alter ohne Stütze bleibst, das schmerzt mich." - Weit entfernt, daß sie um ihr Leben bitten sollte, fordert sie nur den Tod. Aber die Mutter will auch für sie sterben. - Verachtung des Todes war bey den Griechen das sicherste Kennzeichen des Seelenadels, und es ist ein vortheilhaftes Zeichen für die Achtung, worin das Geschlecht beym Euripides gestanden hat, daß er diese Stärke seinen Heldinnen so oft beylegt.

Aber diese Stärke war mit Sittsamkeit gepaart. Polyxena, als sie sterben soll, bittet, daß niemand sie berühren dürfe. Sie biethet selbst ihren Nacken dem Streiche dar, und sucht im Fallen sich noch so zu legen, daß das Gewand ihre Glieder anständig bedecke. Dieß Betragen fordert die Griechen zur höchsten Bewunderung auf, ob Polyxena gleich eine Trojanerin ist. Sie eilen hin, der Entseelten ihre Verehrung zu bezeugen.

Wer kann bey so deutlichen Beweisen von Achtung für das zärtere Geschlecht sich noch an die Rede eines Polymnestor stoßen, wenn dieser ausruft: "Ja! ich nehme alles zusammen, was je Böses wider die Weiber gesagt ist, oder hat gesagt werden können! Es giebt auf der Erde und im Meere nichts, was ihnen an Bosheit gleich kommt. Derjenige, der sie am besten kennt, fühlt diese Wahrheit am meisten!" - Der Elende hatte Hecuba um ihre ihm anvertrauten Schätze betrogen, er hatte ihren Sohn gemordet, und die tiefgebeugte Mutter hatte ihn durch List in ihr Zelt gelockt und geblendet. Unter solchen Umständen müssen die Schmähreden des Polymnestors

dar. Zum Opfer bestimmt, sagt sie zu ihrer Mutter: „Ich klage nicht um mich, daß ich sterben soll. Das Ende meiner Leiden ist mir willkommen! Aber daß du, Mutter, in deinem Alter ohne Stütze bleibst, das schmerzt mich.“ – Weit entfernt, daß sie um ihr Leben bitten sollte, fordert sie nur den Tod. Aber die Mutter will auch für sie sterben. – Verachtung des Todes war bey den Griechen das sicherste Kennzeichen des Seelenadels, und es ist ein vortheilhaftes Zeichen für die Achtung, worin das Geschlecht beym Euripides gestanden hat, daß er diese Stärke seinen Heldinnen so oft beylegt.

Aber diese Stärke war mit Sittsamkeit gepaart. Polyxena, als sie sterben soll, bittet, daß niemand sie berühren dürfe. Sie biethet selbst ihren Nacken dem Streiche dar, und sucht im Fallen sich noch so zu legen, daß das Gewand ihre Glieder anständig bedecke. Dieß Betragen fordert die Griechen zur höchsten Bewunderung auf, ob Polyxena gleich eine Trojanerin ist. Sie eilen hin, der Entseelten ihre Verehrung zu bezeugen.

Wer kann bey so deutlichen Beweisen von Achtung für das zärtere Geschlecht sich noch an die Rede eines Polymnestor stoßen, wenn dieser ausruft: „Ja! ich nehme alles zusammen, was je Böses wider die Weiber gesagt ist, oder hat gesagt werden können! Es giebt auf der Erde und im Meere nichts, was ihnen an Bosheit gleich kommt. Derjenige, der sie am besten kennt, fühlt diese Wahrheit am meisten!“ – Der Elende hatte Hecuba um ihre ihm anvertrauten Schätze betrogen, er hatte ihren Sohn gemordet, und die tiefgebeugte Mutter hatte ihn durch List in ihr Zelt gelockt und geblendet. Unter solchen Umständen müssen die Schmähreden des Polymnestors

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[82/0082] dar. Zum Opfer bestimmt, sagt sie zu ihrer Mutter: „Ich klage nicht um mich, daß ich sterben soll. Das Ende meiner Leiden ist mir willkommen! Aber daß du, Mutter, in deinem Alter ohne Stütze bleibst, das schmerzt mich.“ – Weit entfernt, daß sie um ihr Leben bitten sollte, fordert sie nur den Tod. Aber die Mutter will auch für sie sterben. – Verachtung des Todes war bey den Griechen das sicherste Kennzeichen des Seelenadels, und es ist ein vortheilhaftes Zeichen für die Achtung, worin das Geschlecht beym Euripides gestanden hat, daß er diese Stärke seinen Heldinnen so oft beylegt. Aber diese Stärke war mit Sittsamkeit gepaart. Polyxena, als sie sterben soll, bittet, daß niemand sie berühren dürfe. Sie biethet selbst ihren Nacken dem Streiche dar, und sucht im Fallen sich noch so zu legen, daß das Gewand ihre Glieder anständig bedecke. Dieß Betragen fordert die Griechen zur höchsten Bewunderung auf, ob Polyxena gleich eine Trojanerin ist. Sie eilen hin, der Entseelten ihre Verehrung zu bezeugen. Wer kann bey so deutlichen Beweisen von Achtung für das zärtere Geschlecht sich noch an die Rede eines Polymnestor stoßen, wenn dieser ausruft: „Ja! ich nehme alles zusammen, was je Böses wider die Weiber gesagt ist, oder hat gesagt werden können! Es giebt auf der Erde und im Meere nichts, was ihnen an Bosheit gleich kommt. Derjenige, der sie am besten kennt, fühlt diese Wahrheit am meisten!“ – Der Elende hatte Hecuba um ihre ihm anvertrauten Schätze betrogen, er hatte ihren Sohn gemordet, und die tiefgebeugte Mutter hatte ihn durch List in ihr Zelt gelockt und geblendet. Unter solchen Umständen müssen die Schmähreden des Polymnestors

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/82>, abgerufen am 02.05.2024.