Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.man darin einen neuen Beweis für meine eben gemachte Bemerkung finden. Sophokles hatte also allerdings ein Publikum vor sich, dem Achtung für das weibliche Geschlecht keine fremde Empfindung war, und das sich für die Begebenheiten und Charaktere der Gattinnen, Töchter und Schwestern ganz anders interessierte, als es sich für die Sklavin, und das eingekerkerte Familienmitglied würde haben interessieren können. Allein eben so auffallend ist es auch, daß es die aufopfernde Liebe der Weiber für ihre Männer natürlicher, und seinem Herzen, und seiner Denkungsart näher fand, als die Liebe des Mannes zu seiner Gattin: daß selbst bey dem zärteren Geschlechte Eltern- und Geschwisterliebe ihm edler dünkte, als Gattenliebe: Endlich! um alles zu sagen: daß das Weib nie selbständig, sondern immer als Aggregat des Mannes interessant erscheint, daß es immer die sich aufopfernde Gattin, Beyschläferin, Schwester und Tochter ist, die den Antheil des Zuschauers auf sich zieht. Sechstes Kapitel. Denkungsart des Euripides in diesem Punkte. Wer das Weib in der höchsten Veredlung, welche die gute Sitte in Athen ihm beygelegt hat, kennen lernen will, der wende sich zu den Darstellungen, die Euripides uns von ihm liefert. Diese Behauptung ist der gemeinen Meinung zuwider: sie ist aber darum nicht minder richtig. man darin einen neuen Beweis für meine eben gemachte Bemerkung finden. Sophokles hatte also allerdings ein Publikum vor sich, dem Achtung für das weibliche Geschlecht keine fremde Empfindung war, und das sich für die Begebenheiten und Charaktere der Gattinnen, Töchter und Schwestern ganz anders interessierte, als es sich für die Sklavin, und das eingekerkerte Familienmitglied würde haben interessieren können. Allein eben so auffallend ist es auch, daß es die aufopfernde Liebe der Weiber für ihre Männer natürlicher, und seinem Herzen, und seiner Denkungsart näher fand, als die Liebe des Mannes zu seiner Gattin: daß selbst bey dem zärteren Geschlechte Eltern- und Geschwisterliebe ihm edler dünkte, als Gattenliebe: Endlich! um alles zu sagen: daß das Weib nie selbständig, sondern immer als Aggregat des Mannes interessant erscheint, daß es immer die sich aufopfernde Gattin, Beyschläferin, Schwester und Tochter ist, die den Antheil des Zuschauers auf sich zieht. Sechstes Kapitel. Denkungsart des Euripides in diesem Punkte. Wer das Weib in der höchsten Veredlung, welche die gute Sitte in Athen ihm beygelegt hat, kennen lernen will, der wende sich zu den Darstellungen, die Euripides uns von ihm liefert. Diese Behauptung ist der gemeinen Meinung zuwider: sie ist aber darum nicht minder richtig. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0072" n="72"/> man darin einen neuen Beweis für meine eben gemachte Bemerkung finden.</p> <p>Sophokles hatte also allerdings ein Publikum vor sich, dem Achtung für das weibliche Geschlecht keine fremde Empfindung war, und das sich für die Begebenheiten und Charaktere der Gattinnen, Töchter und Schwestern ganz anders interessierte, als es sich für die Sklavin, und das eingekerkerte Familienmitglied würde haben interessieren können. Allein eben so auffallend ist es auch, daß es die aufopfernde Liebe der Weiber für ihre Männer natürlicher, und seinem Herzen, und seiner Denkungsart näher fand, als die Liebe des Mannes zu seiner Gattin: daß selbst bey dem zärteren Geschlechte Eltern- und Geschwisterliebe ihm edler dünkte, als Gattenliebe: Endlich! um alles zu sagen: daß das Weib nie selbständig, sondern immer als Aggregat des Mannes interessant erscheint, daß es immer die sich aufopfernde <choice><sic>Gattin</sic><corr>Gattin,</corr></choice> Beyschläferin, Schwester und Tochter ist, die den Antheil des Zuschauers auf sich zieht.</p> </div> <div n="2"> <head>Sechstes Kapitel.<lb/></head> <argument> <p>Denkungsart des Euripides in diesem Punkte.<lb/></p> </argument> <p>Wer das Weib in der höchsten Veredlung, welche die gute Sitte in Athen ihm beygelegt hat, kennen lernen will, der wende sich zu den Darstellungen, die Euripides uns von ihm liefert. Diese Behauptung ist der gemeinen Meinung zuwider: sie ist aber darum nicht minder richtig.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0072]
man darin einen neuen Beweis für meine eben gemachte Bemerkung finden.
Sophokles hatte also allerdings ein Publikum vor sich, dem Achtung für das weibliche Geschlecht keine fremde Empfindung war, und das sich für die Begebenheiten und Charaktere der Gattinnen, Töchter und Schwestern ganz anders interessierte, als es sich für die Sklavin, und das eingekerkerte Familienmitglied würde haben interessieren können. Allein eben so auffallend ist es auch, daß es die aufopfernde Liebe der Weiber für ihre Männer natürlicher, und seinem Herzen, und seiner Denkungsart näher fand, als die Liebe des Mannes zu seiner Gattin: daß selbst bey dem zärteren Geschlechte Eltern- und Geschwisterliebe ihm edler dünkte, als Gattenliebe: Endlich! um alles zu sagen: daß das Weib nie selbständig, sondern immer als Aggregat des Mannes interessant erscheint, daß es immer die sich aufopfernde Gattin, Beyschläferin, Schwester und Tochter ist, die den Antheil des Zuschauers auf sich zieht.
Sechstes Kapitel.
Denkungsart des Euripides in diesem Punkte.
Wer das Weib in der höchsten Veredlung, welche die gute Sitte in Athen ihm beygelegt hat, kennen lernen will, der wende sich zu den Darstellungen, die Euripides uns von ihm liefert. Diese Behauptung ist der gemeinen Meinung zuwider: sie ist aber darum nicht minder richtig.
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