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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

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vordringend, muthig, Gefahr und Tod verachtend. "Meinen Bruder unbegraben zu lassen", ruft sie, "das wäre schmerzhaft; der Tod ist es nicht!" Die Schwester Ismene ist dagegen sanft und schüchtern, duldend, aber nicht minder edel. Ihre Schwester soll die Uebertretung des Gesetzes mit dem Tod büßen, und sie, die die Schuld nicht getheilt hat, giebt sich als Theilnehmerin an, und will mit ihr sterben.

Sonderbar! Antigone ist mit Haimon, Kreons Sohne, versprochen, aber die Liebe zu dem Bruder erfüllt dergestalt ihr Herz, daß sie auch des Geliebten nicht einmahl erwähnt, und, ohne ihm ein Nachsehnen zu schenken, muthig dem Tode entgegen eilt. Haimon übernimmt die Vertheidigung seiner Braut bey dem Vater. Er nennt sie die Würdigste ihres Geschlechts, sucht sich jedoch mehr durch Liebe zur Gerechtigkeit und zu dem Vater, als durch Liebe zur Braut beseelt zu zeigen. Aber als der Tyrann sie vor des Sohnes Augen umbringen lassen will, ruft er aus: "Wie! vor meinen Augen, an meiner Seite sollte sie sterben? Nimmermehr! Du wirst mich nicht wiedersehen! Wüthe unter deinen Knechten!" - So spricht Haimon. Aber was thut er? Ergreift er die Waffen gegen den Vater, um die Geliebte zu erretten? Nein! Antigone war lebendig in eine Felsengruft eingesenkt, wo sie eines langsamen Todes sterben sollte. Hier sucht sie Haimon auf, erdrosselt sie, um ihre Leiden zu enden, und zuckt nunmehr erst das Schwert gegen den Vater, der sich ihm nähern will, um ihn aus seiner Lage heraus zu locken. Bald aber kehrt er dieß Schwert gegen sich selbst, durchsticht sich, und drückt, so lange noch sein Leben dauert, sein Herz

vordringend, muthig, Gefahr und Tod verachtend. „Meinen Bruder unbegraben zu lassen“, ruft sie, „das wäre schmerzhaft; der Tod ist es nicht!“ Die Schwester Ismene ist dagegen sanft und schüchtern, duldend, aber nicht minder edel. Ihre Schwester soll die Uebertretung des Gesetzes mit dem Tod büßen, und sie, die die Schuld nicht getheilt hat, giebt sich als Theilnehmerin an, und will mit ihr sterben.

Sonderbar! Antigone ist mit Haimon, Kreons Sohne, versprochen, aber die Liebe zu dem Bruder erfüllt dergestalt ihr Herz, daß sie auch des Geliebten nicht einmahl erwähnt, und, ohne ihm ein Nachsehnen zu schenken, muthig dem Tode entgegen eilt. Haimon übernimmt die Vertheidigung seiner Braut bey dem Vater. Er nennt sie die Würdigste ihres Geschlechts, sucht sich jedoch mehr durch Liebe zur Gerechtigkeit und zu dem Vater, als durch Liebe zur Braut beseelt zu zeigen. Aber als der Tyrann sie vor des Sohnes Augen umbringen lassen will, ruft er aus: „Wie! vor meinen Augen, an meiner Seite sollte sie sterben? Nimmermehr! Du wirst mich nicht wiedersehen! Wüthe unter deinen Knechten!“ – So spricht Haimon. Aber was thut er? Ergreift er die Waffen gegen den Vater, um die Geliebte zu erretten? Nein! Antigone war lebendig in eine Felsengruft eingesenkt, wo sie eines langsamen Todes sterben sollte. Hier sucht sie Haimon auf, erdrosselt sie, um ihre Leiden zu enden, und zuckt nunmehr erst das Schwert gegen den Vater, der sich ihm nähern will, um ihn aus seiner Lage heraus zu locken. Bald aber kehrt er dieß Schwert gegen sich selbst, durchsticht sich, und drückt, so lange noch sein Leben dauert, sein Herz

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[70/0070] vordringend, muthig, Gefahr und Tod verachtend. „Meinen Bruder unbegraben zu lassen“, ruft sie, „das wäre schmerzhaft; der Tod ist es nicht!“ Die Schwester Ismene ist dagegen sanft und schüchtern, duldend, aber nicht minder edel. Ihre Schwester soll die Uebertretung des Gesetzes mit dem Tod büßen, und sie, die die Schuld nicht getheilt hat, giebt sich als Theilnehmerin an, und will mit ihr sterben. Sonderbar! Antigone ist mit Haimon, Kreons Sohne, versprochen, aber die Liebe zu dem Bruder erfüllt dergestalt ihr Herz, daß sie auch des Geliebten nicht einmahl erwähnt, und, ohne ihm ein Nachsehnen zu schenken, muthig dem Tode entgegen eilt. Haimon übernimmt die Vertheidigung seiner Braut bey dem Vater. Er nennt sie die Würdigste ihres Geschlechts, sucht sich jedoch mehr durch Liebe zur Gerechtigkeit und zu dem Vater, als durch Liebe zur Braut beseelt zu zeigen. Aber als der Tyrann sie vor des Sohnes Augen umbringen lassen will, ruft er aus: „Wie! vor meinen Augen, an meiner Seite sollte sie sterben? Nimmermehr! Du wirst mich nicht wiedersehen! Wüthe unter deinen Knechten!“ – So spricht Haimon. Aber was thut er? Ergreift er die Waffen gegen den Vater, um die Geliebte zu erretten? Nein! Antigone war lebendig in eine Felsengruft eingesenkt, wo sie eines langsamen Todes sterben sollte. Hier sucht sie Haimon auf, erdrosselt sie, um ihre Leiden zu enden, und zuckt nunmehr erst das Schwert gegen den Vater, der sich ihm nähern will, um ihn aus seiner Lage heraus zu locken. Bald aber kehrt er dieß Schwert gegen sich selbst, durchsticht sich, und drückt, so lange noch sein Leben dauert, sein Herz

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/70>, abgerufen am 23.11.2024.