Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

als dem Beschauungshange, mehr mit dem niedern, als obern Seelenwesen in Verbindung steht. Jene Lüsternheit der Seele, jener schwärmerische Aneignungs- und Verwandlungstrieb der Geister, der freylich ein höchst zweydeutiger Beweis der Liebe ist; die waren ihm fremd.

Tibull war überhaupt mehr üppig, als lüstern, sowohl den Sinnen als der Imagination nach. Die Formen, unter denen er den Genuß der Liebe und der Geschlechtssympathie aufnimmt und darstellt, lagen vor ihm: er kostete ihre Freuden aus; aber er schwelgte nicht darin: er legte nichts Neues hinein, er setzte nichts Neues zusammen. Die Decenz, die man in seinen Gedichten mehr, als in denen der übrigen Elegiker beobachtet findet, muß weniger einer sittlichen Verschämtheit, als einer natürlichen Züchtigkeit seiner Sinne und seiner Imagination zugeschrieben werden, die nicht mehr aus den Freuden, welche Beyde gewähren, herausnahm, als das Herz darin fand. Er ist darum so wenig lasciv in den Bildern des gröbern sinnlichen Genusses, weil er so wenig lüstern in allen Bildern überhaupt ist. -

Tibull war unstreitig mit natürlichen Anlagen zur Zärtlichkeit, mit dem Bedürfnisse nach Vereinigung der Herzen geboren. Ohne solche Anlagen liebt man nicht, wie er gethan hat. Aber mehrere Umstände haben gewiß dazu beygetragen, diese auszubilden: der Verlust eines ansehnlichen Vermögens in der Jugend, der ihn auf jenen Mittelstand zurückbrachte, welcher der Menschenliebe und der Zärtlichkeit so zuträglich ist: eine Kränklichkeit, wovon wir mehrere Spuren in seinen Gedichten finden: und endlich Erfahrungen, die mit großen Leiden für sein Herz verknüpft gewesen sind.

als dem Beschauungshange, mehr mit dem niedern, als obern Seelenwesen in Verbindung steht. Jene Lüsternheit der Seele, jener schwärmerische Aneignungs- und Verwandlungstrieb der Geister, der freylich ein höchst zweydeutiger Beweis der Liebe ist; die waren ihm fremd.

Tibull war überhaupt mehr üppig, als lüstern, sowohl den Sinnen als der Imagination nach. Die Formen, unter denen er den Genuß der Liebe und der Geschlechtssympathie aufnimmt und darstellt, lagen vor ihm: er kostete ihre Freuden aus; aber er schwelgte nicht darin: er legte nichts Neues hinein, er setzte nichts Neues zusammen. Die Decenz, die man in seinen Gedichten mehr, als in denen der übrigen Elegiker beobachtet findet, muß weniger einer sittlichen Verschämtheit, als einer natürlichen Züchtigkeit seiner Sinne und seiner Imagination zugeschrieben werden, die nicht mehr aus den Freuden, welche Beyde gewähren, herausnahm, als das Herz darin fand. Er ist darum so wenig lasciv in den Bildern des gröbern sinnlichen Genusses, weil er so wenig lüstern in allen Bildern überhaupt ist. –

Tibull war unstreitig mit natürlichen Anlagen zur Zärtlichkeit, mit dem Bedürfnisse nach Vereinigung der Herzen geboren. Ohne solche Anlagen liebt man nicht, wie er gethan hat. Aber mehrere Umstände haben gewiß dazu beygetragen, diese auszubilden: der Verlust eines ansehnlichen Vermögens in der Jugend, der ihn auf jenen Mittelstand zurückbrachte, welcher der Menschenliebe und der Zärtlichkeit so zuträglich ist: eine Kränklichkeit, wovon wir mehrere Spuren in seinen Gedichten finden: und endlich Erfahrungen, die mit großen Leiden für sein Herz verknüpft gewesen sind.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0318" n="318"/>
als dem Beschauungshange, mehr mit dem niedern, als obern Seelenwesen in Verbindung steht. Jene Lüsternheit der Seele, jener schwärmerische Aneignungs- und Verwandlungstrieb der Geister, der freylich ein höchst zweydeutiger Beweis der Liebe ist; die waren ihm fremd.</p>
          <p>Tibull war überhaupt mehr üppig, als lüstern, sowohl den Sinnen als der Imagination nach. Die Formen, unter denen er den Genuß der Liebe und der Geschlechtssympathie aufnimmt und darstellt, lagen vor ihm: er kostete ihre Freuden aus; aber er schwelgte nicht darin: er legte nichts Neues hinein, er setzte nichts Neues zusammen. Die Decenz, die man in seinen Gedichten mehr, als in denen der übrigen Elegiker beobachtet findet, muß weniger einer sittlichen Verschämtheit, als einer natürlichen Züchtigkeit seiner Sinne und seiner Imagination zugeschrieben werden, die nicht mehr aus den Freuden, welche Beyde gewähren, herausnahm, als das Herz darin fand. Er ist darum so wenig lasciv in den Bildern des gröbern sinnlichen Genusses, weil er so wenig lüstern in allen Bildern überhaupt ist. &#x2013;</p>
          <p>Tibull war unstreitig mit natürlichen Anlagen zur Zärtlichkeit, mit dem Bedürfnisse nach Vereinigung der Herzen geboren. Ohne solche Anlagen liebt man nicht, wie er gethan hat. Aber mehrere Umstände haben gewiß dazu beygetragen, diese auszubilden: der Verlust eines ansehnlichen Vermögens in der Jugend, der ihn auf jenen Mittelstand zurückbrachte, welcher der Menschenliebe und der Zärtlichkeit so zuträglich ist: eine Kränklichkeit, wovon wir mehrere Spuren in seinen Gedichten finden: und endlich Erfahrungen, die mit großen Leiden für sein Herz <choice><sic>verknüft</sic><corr>verknüpft</corr></choice> gewesen sind.</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0318] als dem Beschauungshange, mehr mit dem niedern, als obern Seelenwesen in Verbindung steht. Jene Lüsternheit der Seele, jener schwärmerische Aneignungs- und Verwandlungstrieb der Geister, der freylich ein höchst zweydeutiger Beweis der Liebe ist; die waren ihm fremd. Tibull war überhaupt mehr üppig, als lüstern, sowohl den Sinnen als der Imagination nach. Die Formen, unter denen er den Genuß der Liebe und der Geschlechtssympathie aufnimmt und darstellt, lagen vor ihm: er kostete ihre Freuden aus; aber er schwelgte nicht darin: er legte nichts Neues hinein, er setzte nichts Neues zusammen. Die Decenz, die man in seinen Gedichten mehr, als in denen der übrigen Elegiker beobachtet findet, muß weniger einer sittlichen Verschämtheit, als einer natürlichen Züchtigkeit seiner Sinne und seiner Imagination zugeschrieben werden, die nicht mehr aus den Freuden, welche Beyde gewähren, herausnahm, als das Herz darin fand. Er ist darum so wenig lasciv in den Bildern des gröbern sinnlichen Genusses, weil er so wenig lüstern in allen Bildern überhaupt ist. – Tibull war unstreitig mit natürlichen Anlagen zur Zärtlichkeit, mit dem Bedürfnisse nach Vereinigung der Herzen geboren. Ohne solche Anlagen liebt man nicht, wie er gethan hat. Aber mehrere Umstände haben gewiß dazu beygetragen, diese auszubilden: der Verlust eines ansehnlichen Vermögens in der Jugend, der ihn auf jenen Mittelstand zurückbrachte, welcher der Menschenliebe und der Zärtlichkeit so zuträglich ist: eine Kränklichkeit, wovon wir mehrere Spuren in seinen Gedichten finden: und endlich Erfahrungen, die mit großen Leiden für sein Herz verknüpft gewesen sind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/318
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/318>, abgerufen am 22.11.2024.