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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798.

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Gesetzt, es wäre an einem gewissen Orte hergebracht, sich gar nicht um die Bezeugungen des allgemeinen Wohlwollens und der Achtung zu bekümmern, die man bey Bewillkommung oder Entlassung eines Menschen unter allen policierten Nationen angenommen findet. Niemand grüßte den andern, niemand bezeugte ihm Aufmerksamkeit bey traurigen oder fröhlichen Gelegenheiten: keiner wollte dem andern bey den Bedürfnissen der Bequemlichkeit, die er bey zufälligen Zusammenkünften mit andern haben könnte, Gefälligkeit erweisen. Auf Geberden, und die Art sich mündlich auszudrucken, würde gar nicht gesehen. Ungezwungenheit wäre der einzige Grundsatz, den man befolgen zu müssen glaubte. Ausgelassenheit, als die höchste Stufe des Vergnügens, wäre der Zweck, auf den man los arbeitete. - Darum wäre es Ton, daß kein Weib freye Scherze unbeantwortet ließe; darum wäre es Ton, daß alle Gesellen sich unter einander lächerlich machen möchten, keiner aber seinen Unmuth merken lassen dürfte. - Ein solcher Ton würde offenbar schlecht seyn, weil er der Sicherheit, Ruhe, Bequemlichkeit auf die Länge nothwendig nachtheilig werden muß. Aber ein Mensch, der diesen Ton sich ganz zu eigen gemacht hätte, so schlecht er an sich ist, würde doch mehr Anspruch auf Urbanität in dieser örtlichen Gesellschaft haben, als derjenige, der bey einem bessern Tone durch seine Steifigkeit oder Empfindlichkeit das Vergnügen der Gesellschaft stören würde.

Oder man nehme ein anderes Extrem! Es wäre an einem Orte hergebracht, sich nicht anders als unter abgemessenen Beugungen des Körpers, und unter auswendig gelernten Complimenten einander zu nähern; eine ängstliche Aufmerksamkeit auf Rang, Anstand, persönliche

Gesetzt, es wäre an einem gewissen Orte hergebracht, sich gar nicht um die Bezeugungen des allgemeinen Wohlwollens und der Achtung zu bekümmern, die man bey Bewillkommung oder Entlassung eines Menschen unter allen policierten Nationen angenommen findet. Niemand grüßte den andern, niemand bezeugte ihm Aufmerksamkeit bey traurigen oder fröhlichen Gelegenheiten: keiner wollte dem andern bey den Bedürfnissen der Bequemlichkeit, die er bey zufälligen Zusammenkünften mit andern haben könnte, Gefälligkeit erweisen. Auf Geberden, und die Art sich mündlich auszudrucken, würde gar nicht gesehen. Ungezwungenheit wäre der einzige Grundsatz, den man befolgen zu müssen glaubte. Ausgelassenheit, als die höchste Stufe des Vergnügens, wäre der Zweck, auf den man los arbeitete. – Darum wäre es Ton, daß kein Weib freye Scherze unbeantwortet ließe; darum wäre es Ton, daß alle Gesellen sich unter einander lächerlich machen möchten, keiner aber seinen Unmuth merken lassen dürfte. – Ein solcher Ton würde offenbar schlecht seyn, weil er der Sicherheit, Ruhe, Bequemlichkeit auf die Länge nothwendig nachtheilig werden muß. Aber ein Mensch, der diesen Ton sich ganz zu eigen gemacht hätte, so schlecht er an sich ist, würde doch mehr Anspruch auf Urbanität in dieser örtlichen Gesellschaft haben, als derjenige, der bey einem bessern Tone durch seine Steifigkeit oder Empfindlichkeit das Vergnügen der Gesellschaft stören würde.

Oder man nehme ein anderes Extrem! Es wäre an einem Orte hergebracht, sich nicht anders als unter abgemessenen Beugungen des Körpers, und unter auswendig gelernten Complimenten einander zu nähern; eine ängstliche Aufmerksamkeit auf Rang, Anstand, persönliche

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[219/0219] Gesetzt, es wäre an einem gewissen Orte hergebracht, sich gar nicht um die Bezeugungen des allgemeinen Wohlwollens und der Achtung zu bekümmern, die man bey Bewillkommung oder Entlassung eines Menschen unter allen policierten Nationen angenommen findet. Niemand grüßte den andern, niemand bezeugte ihm Aufmerksamkeit bey traurigen oder fröhlichen Gelegenheiten: keiner wollte dem andern bey den Bedürfnissen der Bequemlichkeit, die er bey zufälligen Zusammenkünften mit andern haben könnte, Gefälligkeit erweisen. Auf Geberden, und die Art sich mündlich auszudrucken, würde gar nicht gesehen. Ungezwungenheit wäre der einzige Grundsatz, den man befolgen zu müssen glaubte. Ausgelassenheit, als die höchste Stufe des Vergnügens, wäre der Zweck, auf den man los arbeitete. – Darum wäre es Ton, daß kein Weib freye Scherze unbeantwortet ließe; darum wäre es Ton, daß alle Gesellen sich unter einander lächerlich machen möchten, keiner aber seinen Unmuth merken lassen dürfte. – Ein solcher Ton würde offenbar schlecht seyn, weil er der Sicherheit, Ruhe, Bequemlichkeit auf die Länge nothwendig nachtheilig werden muß. Aber ein Mensch, der diesen Ton sich ganz zu eigen gemacht hätte, so schlecht er an sich ist, würde doch mehr Anspruch auf Urbanität in dieser örtlichen Gesellschaft haben, als derjenige, der bey einem bessern Tone durch seine Steifigkeit oder Empfindlichkeit das Vergnügen der Gesellschaft stören würde. Oder man nehme ein anderes Extrem! Es wäre an einem Orte hergebracht, sich nicht anders als unter abgemessenen Beugungen des Körpers, und unter auswendig gelernten Complimenten einander zu nähern; eine ängstliche Aufmerksamkeit auf Rang, Anstand, persönliche

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798/219>, abgerufen am 26.11.2024.