Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798.Ich kann unmöglich diese letzte Verfahrungsart billigen. Sie verführt den Lehrer sehr leicht Unvollkommenheiten und Mängel mit Vorzügen zu verwechseln. Sie ladet den Schüler, vermöge der natürlichen Lässigkeit des menschlichen Geistes ein, sich bereits durch Annäherung an jene mangelhaften Muster für vollkommen zu halten. Gewiß, derjenige, der eine Theorie edler Fertigkeiten und schöner Künste schreibt, muß die Fähigkeiten des Menschen und seine Verhältnisse genau kennen; er muß wissen, was von unserer Willkühr abhängig ist oder nicht; aber nie darf er bloß darauf Rücksicht nehmen, was die bisherigen Erfahrungen als wirklich geschehen liefern. Er muß dem menschlichen Genie das weiteste Ziel vorstecken, was nur in seinen Grenzen liegen kann. Dann wird sich der Aesthetiker noch immer von dem Dichter unterscheiden, der aus der wirklichen Welt völlig herausgeht, und den Menschen, mit idealischen Kräften versehen, unter eben so idealischen Verhältnissen darstellt. Er steht zwischen diesem und dem Moralisten in der Mitte. Der Moralist setzt gewöhnliche Fähigkeiten, gewöhnliche Verhältnisse zum Voraus: er verlangt von dem Menschen nur diejenige Anwendung des Verstandes und der Vernunft, die jene zulassen, und dieß bestimmt die Regeln die er vorschreibt; er schreibt sie allen vor. Der Aesthetiker rechnet auf seltene Menschen und seltene Verhältnisse; er wendet die Gesetze des Verstandes und der Vernunft nur auf diese an, und bestimmt nur für diese Regeln. Derjenige, der edel liebt, sagt der Dichter, bewundert in einem schönen Antlitze die glückliche Nachahmung der unkörperlichen Schönheit, das Urbild, nach welchem Ich kann unmöglich diese letzte Verfahrungsart billigen. Sie verführt den Lehrer sehr leicht Unvollkommenheiten und Mängel mit Vorzügen zu verwechseln. Sie ladet den Schüler, vermöge der natürlichen Lässigkeit des menschlichen Geistes ein, sich bereits durch Annäherung an jene mangelhaften Muster für vollkommen zu halten. Gewiß, derjenige, der eine Theorie edler Fertigkeiten und schöner Künste schreibt, muß die Fähigkeiten des Menschen und seine Verhältnisse genau kennen; er muß wissen, was von unserer Willkühr abhängig ist oder nicht; aber nie darf er bloß darauf Rücksicht nehmen, was die bisherigen Erfahrungen als wirklich geschehen liefern. Er muß dem menschlichen Genie das weiteste Ziel vorstecken, was nur in seinen Grenzen liegen kann. Dann wird sich der Aesthetiker noch immer von dem Dichter unterscheiden, der aus der wirklichen Welt völlig herausgeht, und den Menschen, mit idealischen Kräften versehen, unter eben so idealischen Verhältnissen darstellt. Er steht zwischen diesem und dem Moralisten in der Mitte. Der Moralist setzt gewöhnliche Fähigkeiten, gewöhnliche Verhältnisse zum Voraus: er verlangt von dem Menschen nur diejenige Anwendung des Verstandes und der Vernunft, die jene zulassen, und dieß bestimmt die Regeln die er vorschreibt; er schreibt sie allen vor. Der Aesthetiker rechnet auf seltene Menschen und seltene Verhältnisse; er wendet die Gesetze des Verstandes und der Vernunft nur auf diese an, und bestimmt nur für diese Regeln. Derjenige, der edel liebt, sagt der Dichter, bewundert in einem schönen Antlitze die glückliche Nachahmung der unkörperlichen Schönheit, das Urbild, nach welchem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0158" n="158"/> <p>Ich kann unmöglich diese letzte Verfahrungsart billigen. Sie verführt den Lehrer sehr leicht Unvollkommenheiten und Mängel mit Vorzügen zu verwechseln. 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Ich kann unmöglich diese letzte Verfahrungsart billigen. Sie verführt den Lehrer sehr leicht Unvollkommenheiten und Mängel mit Vorzügen zu verwechseln. Sie ladet den Schüler, vermöge der natürlichen Lässigkeit des menschlichen Geistes ein, sich bereits durch Annäherung an jene mangelhaften Muster für vollkommen zu halten. Gewiß, derjenige, der eine Theorie edler Fertigkeiten und schöner Künste schreibt, muß die Fähigkeiten des Menschen und seine Verhältnisse genau kennen; er muß wissen, was von unserer Willkühr abhängig ist oder nicht; aber nie darf er bloß darauf Rücksicht nehmen, was die bisherigen Erfahrungen als wirklich geschehen liefern. Er muß dem menschlichen Genie das weiteste Ziel vorstecken, was nur in seinen Grenzen liegen kann. Dann wird sich der Aesthetiker noch immer von dem Dichter unterscheiden, der aus der wirklichen Welt völlig herausgeht, und den Menschen, mit idealischen Kräften versehen, unter eben so idealischen Verhältnissen darstellt. Er steht zwischen diesem und dem Moralisten in der Mitte.
Der Moralist setzt gewöhnliche Fähigkeiten, gewöhnliche Verhältnisse zum Voraus: er verlangt von dem Menschen nur diejenige Anwendung des Verstandes und der Vernunft, die jene zulassen, und dieß bestimmt die Regeln die er vorschreibt; er schreibt sie allen vor. Der Aesthetiker rechnet auf seltene Menschen und seltene Verhältnisse; er wendet die Gesetze des Verstandes und der Vernunft nur auf diese an, und bestimmt nur für diese Regeln.
Derjenige, der edel liebt, sagt der Dichter, bewundert in einem schönen Antlitze die glückliche Nachahmung der unkörperlichen Schönheit, das Urbild, nach welchem
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