Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite
in der Bildhauerei.

Aber dies Vergnügen muß nie mit Aufopferung
wesentlicherer Ansprüche besorget werden, die der Be-

schauer
der eigentlichen Schönheit der Formen aber, welche
auf Uebereinstimmung vieler Theile zu einem Gan-
zen beruht, und eine gleichzeitige Beäugung vor-
aussetzt, schwerlich einen richtigen Begriff erhalten
möge: vorzüglich bei Körpern von größerem Um-
fange. Daß die Statue in allen Fällen, wo wir,
so zu sagen, einen Körper mit der Hand greifen
möchten, die Prüfung des tastenden Gefühls müsse
bestehen können, ist augenscheinlich gewiß: und
dies ist eine schöne Bemerkung, die wir Herrn
Herder verdanken. Allein außerdem daß der an-
genehme Eindruck einer Statue noch von etwas
mehr abhängt als von der bloßen Illusion, so ist
es auch sicher, daß selbst diese durch das tastende
Gefühl allein nicht absolviret wird.
Die Wahrnehmung der Verhältnisse ist ein Haupt-
ingredienz des Gefühls der Wahrscheinlichkeit, und
diese wird die nach und nach oder progressiv fort-
schreitende Hand schwerlich genau ausfinden. Die
Anekdoten von blinden Plastikern sind viel zu unzu-
verläßig, als daß man einen Gegenbeweis daraus
führen könnte. Sind es Blindgebohrne gewesen?
Haben sie nicht von fremden Augen Lehren über
blos sichtbare Verhältnisse erhalten? Und dann:
was haben sie geliefert? Bildnisse, Copien, und
zwar von Köpfen, nicht von ganzen Figuren.
Auch scheinen die Folgerungen, die Herr Herder
aus diesem Grundsatze herleitet, zu weit getrieben,
lassen sich aus andern concurrirenden Ursachen
leichter erklären, und haben zum Theil die Erfah-
rung wider sich. Am sichersten geht man, wie ich
glaube,
N 4
in der Bildhauerei.

Aber dies Vergnuͤgen muß nie mit Aufopferung
weſentlicherer Anſpruͤche beſorget werden, die der Be-

ſchauer
der eigentlichen Schoͤnheit der Formen aber, welche
auf Uebereinſtimmung vieler Theile zu einem Gan-
zen beruht, und eine gleichzeitige Beaͤugung vor-
ausſetzt, ſchwerlich einen richtigen Begriff erhalten
moͤge: vorzuͤglich bei Koͤrpern von groͤßerem Um-
fange. Daß die Statue in allen Faͤllen, wo wir,
ſo zu ſagen, einen Koͤrper mit der Hand greifen
moͤchten, die Pruͤfung des taſtenden Gefuͤhls muͤſſe
beſtehen koͤnnen, iſt augenſcheinlich gewiß: und
dies iſt eine ſchoͤne Bemerkung, die wir Herrn
Herder verdanken. Allein außerdem daß der an-
genehme Eindruck einer Statue noch von etwas
mehr abhaͤngt als von der bloßen Illuſion, ſo iſt
es auch ſicher, daß ſelbſt dieſe durch das taſtende
Gefuͤhl allein nicht abſolviret wird.
Die Wahrnehmung der Verhaͤltniſſe iſt ein Haupt-
ingredienz des Gefuͤhls der Wahrſcheinlichkeit, und
dieſe wird die nach und nach oder progreſſiv fort-
ſchreitende Hand ſchwerlich genau ausfinden. Die
Anekdoten von blinden Plaſtikern ſind viel zu unzu-
verlaͤßig, als daß man einen Gegenbeweis daraus
fuͤhren koͤnnte. Sind es Blindgebohrne geweſen?
Haben ſie nicht von fremden Augen Lehren uͤber
blos ſichtbare Verhaͤltniſſe erhalten? Und dann:
was haben ſie geliefert? Bildniſſe, Copien, und
zwar von Koͤpfen, nicht von ganzen Figuren.
Auch ſcheinen die Folgerungen, die Herr Herder
aus dieſem Grundſatze herleitet, zu weit getrieben,
laſſen ſich aus andern concurrirenden Urſachen
leichter erklaͤren, und haben zum Theil die Erfah-
rung wider ſich. Am ſicherſten geht man, wie ich
glaube,
N 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0223" n="199"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">in der Bildhauerei.</hi> </fw><lb/>
          <p>Aber dies Vergnu&#x0364;gen muß nie mit Aufopferung<lb/>
we&#x017F;entlicherer An&#x017F;pru&#x0364;che be&#x017F;orget werden, die der Be-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 4</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chauer</fw><lb/><note prev="#note-0222" xml:id="note-0223" next="#note-0224" place="foot" n="6)">der eigentlichen Scho&#x0364;nheit der Formen aber, welche<lb/>
auf Ueberein&#x017F;timmung vieler Theile zu einem Gan-<lb/>
zen beruht, und eine gleichzeitige Bea&#x0364;ugung vor-<lb/>
aus&#x017F;etzt, &#x017F;chwerlich einen richtigen Begriff erhalten<lb/>
mo&#x0364;ge: vorzu&#x0364;glich bei Ko&#x0364;rpern von gro&#x0364;ßerem Um-<lb/>
fange. Daß die Statue in allen Fa&#x0364;llen, wo wir,<lb/>
&#x017F;o zu &#x017F;agen, einen Ko&#x0364;rper mit der Hand greifen<lb/>
mo&#x0364;chten, die Pru&#x0364;fung des ta&#x017F;tenden Gefu&#x0364;hls mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e<lb/>
be&#x017F;tehen ko&#x0364;nnen, i&#x017F;t augen&#x017F;cheinlich gewiß: und<lb/>
dies i&#x017F;t eine &#x017F;cho&#x0364;ne Bemerkung, die wir Herrn<lb/>
Herder verdanken. Allein außerdem daß der an-<lb/>
genehme Eindruck einer Statue noch von etwas<lb/>
mehr abha&#x0364;ngt als von der bloßen Illu&#x017F;ion, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
es auch &#x017F;icher, daß &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e durch das ta&#x017F;tende<lb/>
Gefu&#x0364;hl allein nicht ab&#x017F;olviret wird.<lb/>
Die Wahrnehmung der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t ein Haupt-<lb/>
ingredienz des Gefu&#x0364;hls der Wahr&#x017F;cheinlichkeit, und<lb/>
die&#x017F;e wird die nach und nach oder progre&#x017F;&#x017F;iv fort-<lb/>
&#x017F;chreitende Hand &#x017F;chwerlich genau ausfinden. Die<lb/>
Anekdoten von blinden Pla&#x017F;tikern &#x017F;ind viel zu unzu-<lb/>
verla&#x0364;ßig, als daß man einen Gegenbeweis daraus<lb/>
fu&#x0364;hren ko&#x0364;nnte. Sind es Blindgebohrne gewe&#x017F;en?<lb/>
Haben &#x017F;ie nicht von fremden Augen Lehren u&#x0364;ber<lb/>
blos &#x017F;ichtbare Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e erhalten? Und dann:<lb/>
was haben &#x017F;ie geliefert? Bildni&#x017F;&#x017F;e, Copien, und<lb/>
zwar von Ko&#x0364;pfen, nicht von ganzen Figuren.<lb/>
Auch &#x017F;cheinen die Folgerungen, die Herr Herder<lb/>
aus die&#x017F;em Grund&#x017F;atze herleitet, zu weit getrieben,<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich aus andern concurrirenden Ur&#x017F;achen<lb/>
leichter erkla&#x0364;ren, und haben zum Theil die Erfah-<lb/>
rung wider &#x017F;ich. Am &#x017F;icher&#x017F;ten geht man, wie ich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">glaube,</fw></note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0223] in der Bildhauerei. Aber dies Vergnuͤgen muß nie mit Aufopferung weſentlicherer Anſpruͤche beſorget werden, die der Be- ſchauer 6) 6) der eigentlichen Schoͤnheit der Formen aber, welche auf Uebereinſtimmung vieler Theile zu einem Gan- zen beruht, und eine gleichzeitige Beaͤugung vor- ausſetzt, ſchwerlich einen richtigen Begriff erhalten moͤge: vorzuͤglich bei Koͤrpern von groͤßerem Um- fange. Daß die Statue in allen Faͤllen, wo wir, ſo zu ſagen, einen Koͤrper mit der Hand greifen moͤchten, die Pruͤfung des taſtenden Gefuͤhls muͤſſe beſtehen koͤnnen, iſt augenſcheinlich gewiß: und dies iſt eine ſchoͤne Bemerkung, die wir Herrn Herder verdanken. Allein außerdem daß der an- genehme Eindruck einer Statue noch von etwas mehr abhaͤngt als von der bloßen Illuſion, ſo iſt es auch ſicher, daß ſelbſt dieſe durch das taſtende Gefuͤhl allein nicht abſolviret wird. Die Wahrnehmung der Verhaͤltniſſe iſt ein Haupt- ingredienz des Gefuͤhls der Wahrſcheinlichkeit, und dieſe wird die nach und nach oder progreſſiv fort- ſchreitende Hand ſchwerlich genau ausfinden. Die Anekdoten von blinden Plaſtikern ſind viel zu unzu- verlaͤßig, als daß man einen Gegenbeweis daraus fuͤhren koͤnnte. Sind es Blindgebohrne geweſen? Haben ſie nicht von fremden Augen Lehren uͤber blos ſichtbare Verhaͤltniſſe erhalten? Und dann: was haben ſie geliefert? Bildniſſe, Copien, und zwar von Koͤpfen, nicht von ganzen Figuren. Auch ſcheinen die Folgerungen, die Herr Herder aus dieſem Grundſatze herleitet, zu weit getrieben, laſſen ſich aus andern concurrirenden Urſachen leichter erklaͤren, und haben zum Theil die Erfah- rung wider ſich. Am ſicherſten geht man, wie ich glaube, N 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/223
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/223>, abgerufen am 24.11.2024.