Freunde, sich seiner Kinder anzunehmen, als Un- muth und Durst nach Rache: Das stimme mit der Geschichte nicht überein. Wer heißt ihn aber auch den Germanicus im Anfange der Rede zu sehen? mit dem Ende derselben stimmt der Ausdruck sehr überein.
Gesetzt aber: es wäre nicht. Was zwingt den Künstler mit der Begebenheit, die er von dem Ge- schichtschreiber entlehnt, zugleich die Art des Vortra- ges zu borgen? Poussin erzählt, die Sache auf diese, Tacitus auf eine andere Weise.
Sind aber würklich der Dichter und der Ge- schichtschreiber so weit aus einander? Wenn Ger- manicus seine Freunde zur Rache aufforderte, so übertrug er ihnen eine Pflicht, die nach der Moral der Alten seinen Kindern oblag. Ihr hülfloses Al- ter ließ dieses nicht zu: Der Vater bittet seine Freunde, sie derselben zu entledigen; so bat er sie doch wohl im Grunde, sich seiner Kinder anzu- nehmen.
Richardson sagt: dieser Gedanke sey niedrig und gewöhnlich. Das Niedrige finde ich nicht, und das Gewöhnliche dürfte kein Vorwurf seyn. Wer sich jetzt dem Bilde naht, ohne den Tacitus und den Ger- manicus zu kennen, der sieht einen Sterbenden, der seinen Freunden sein Weib und seine Kinder empfiehlt. Dieser Vorfall, wenn er sich täglich zutragen kann, und daher von jedem Menschen von Gefühl verstan- den wird, ist darum noch nicht so alltäglich gewor- den, daß er unsere Aufmerksamkeit ermüdet, wenn
wir
Pallaſt Barberini.
Freunde, ſich ſeiner Kinder anzunehmen, als Un- muth und Durſt nach Rache: Das ſtimme mit der Geſchichte nicht uͤberein. Wer heißt ihn aber auch den Germanicus im Anfange der Rede zu ſehen? mit dem Ende derſelben ſtimmt der Ausdruck ſehr uͤberein.
Geſetzt aber: es waͤre nicht. Was zwingt den Kuͤnſtler mit der Begebenheit, die er von dem Ge- ſchichtſchreiber entlehnt, zugleich die Art des Vortra- ges zu borgen? Pouſſin erzaͤhlt, die Sache auf dieſe, Tacitus auf eine andere Weiſe.
Sind aber wuͤrklich der Dichter und der Ge- ſchichtſchreiber ſo weit aus einander? Wenn Ger- manicus ſeine Freunde zur Rache aufforderte, ſo uͤbertrug er ihnen eine Pflicht, die nach der Moral der Alten ſeinen Kindern oblag. Ihr huͤlfloſes Al- ter ließ dieſes nicht zu: Der Vater bittet ſeine Freunde, ſie derſelben zu entledigen; ſo bat er ſie doch wohl im Grunde, ſich ſeiner Kinder anzu- nehmen.
Richardſon ſagt: dieſer Gedanke ſey niedrig und gewoͤhnlich. Das Niedrige finde ich nicht, und das Gewoͤhnliche duͤrfte kein Vorwurf ſeyn. Wer ſich jetzt dem Bilde naht, ohne den Tacitus und den Ger- manicus zu kennen, der ſieht einen Sterbenden, der ſeinen Freunden ſein Weib und ſeine Kinder empfiehlt. Dieſer Vorfall, wenn er ſich taͤglich zutragen kann, und daher von jedem Menſchen von Gefuͤhl verſtan- den wird, iſt darum noch nicht ſo alltaͤglich gewor- den, daß er unſere Aufmerkſamkeit ermuͤdet, wenn
wir
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Pallaſt Barberini.
Freunde, ſich ſeiner Kinder anzunehmen, als Un-
muth und Durſt nach Rache: Das ſtimme mit der
Geſchichte nicht uͤberein. Wer heißt ihn aber auch
den Germanicus im Anfange der Rede zu ſehen?
mit dem Ende derſelben ſtimmt der Ausdruck ſehr
uͤberein.
Geſetzt aber: es waͤre nicht. Was zwingt den
Kuͤnſtler mit der Begebenheit, die er von dem Ge-
ſchichtſchreiber entlehnt, zugleich die Art des Vortra-
ges zu borgen? Pouſſin erzaͤhlt, die Sache auf dieſe,
Tacitus auf eine andere Weiſe.
Sind aber wuͤrklich der Dichter und der Ge-
ſchichtſchreiber ſo weit aus einander? Wenn Ger-
manicus ſeine Freunde zur Rache aufforderte, ſo
uͤbertrug er ihnen eine Pflicht, die nach der Moral
der Alten ſeinen Kindern oblag. Ihr huͤlfloſes Al-
ter ließ dieſes nicht zu: Der Vater bittet ſeine
Freunde, ſie derſelben zu entledigen; ſo bat er ſie
doch wohl im Grunde, ſich ſeiner Kinder anzu-
nehmen.
Richardſon ſagt: dieſer Gedanke ſey niedrig und
gewoͤhnlich. Das Niedrige finde ich nicht, und das
Gewoͤhnliche duͤrfte kein Vorwurf ſeyn. Wer ſich
jetzt dem Bilde naht, ohne den Tacitus und den Ger-
manicus zu kennen, der ſieht einen Sterbenden, der
ſeinen Freunden ſein Weib und ſeine Kinder empfiehlt.
Dieſer Vorfall, wenn er ſich taͤglich zutragen kann,
und daher von jedem Menſchen von Gefuͤhl verſtan-
den wird, iſt darum noch nicht ſo alltaͤglich gewor-
den, daß er unſere Aufmerkſamkeit ermuͤdet, wenn
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/320>, abgerufen am 18.06.2024.
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