Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Vaticanische Pallast.
nier, die im Grunde nur eine Verbesserung der er-
sten ist.

Ausdruck bleibt auch hier der charakteristische
Vorzug unsers Meisters. Die dichterische Erfindung
zeigt schon die Kenntniß des Grundsatzes, daß alle
Figuren in einem Gemählde einen ungetrennten An-
theil an der Handlung nehmen müssen: daß sie für
sich, nicht für den Zuschauer handeln.

Allein die mahlerische Anordnung ist zu symme-
trisch. Die Zeichnung ist richtig, ist fein, aber zu
hart, zu bestimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge-
wänder sind noch in zu viele Partien getheilt; die
Ausführung ist noch zu trocken, der Fleiß zu sehr auf
Nebensachen verschwendet. Ja! ein gewisser gothi-
scher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Köpfe
der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewändern,
ist noch nicht abgelegt.

Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu
sehr in Raphaels Seele gegründet, als daß er lange
auf dieser Stufe hätte stehen bleiben sollen. Wir fin-
den ihn beschäfftigt, ihr auf verschiedenen Wegen
nachzustreben. Bald zieht das Colorit alle seine Auf-
merksamkeit an sich, wie in dem Gemählde der Messe
zu Bolsena: Bald strebt er dem Helldunkeln nach,
wie in dem Gemählde der Befreiung des heiligen Pe-
trus: Bald aber zwingt ihn überhäufte Arbeit, sei-
nen Schülern die Ausführung seiner Ideen zu über-
lassen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo
in der Zeichnung fürchtet, so verwendet er seine ver-
doppelten Kräfte an diesen wichtigsten Theil seiner
Kunst. Hier aber steht er in Gefahr, den Anschein

von
H 5

Der Vaticaniſche Pallaſt.
nier, die im Grunde nur eine Verbeſſerung der er-
ſten iſt.

Ausdruck bleibt auch hier der charakteriſtiſche
Vorzug unſers Meiſters. Die dichteriſche Erfindung
zeigt ſchon die Kenntniß des Grundſatzes, daß alle
Figuren in einem Gemaͤhlde einen ungetrennten An-
theil an der Handlung nehmen muͤſſen: daß ſie fuͤr
ſich, nicht fuͤr den Zuſchauer handeln.

Allein die mahleriſche Anordnung iſt zu ſymme-
triſch. Die Zeichnung iſt richtig, iſt fein, aber zu
hart, zu beſtimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge-
waͤnder ſind noch in zu viele Partien getheilt; die
Ausfuͤhrung iſt noch zu trocken, der Fleiß zu ſehr auf
Nebenſachen verſchwendet. Ja! ein gewiſſer gothi-
ſcher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Koͤpfe
der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewaͤndern,
iſt noch nicht abgelegt.

Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu
ſehr in Raphaels Seele gegruͤndet, als daß er lange
auf dieſer Stufe haͤtte ſtehen bleiben ſollen. Wir fin-
den ihn beſchaͤfftigt, ihr auf verſchiedenen Wegen
nachzuſtreben. Bald zieht das Colorit alle ſeine Auf-
merkſamkeit an ſich, wie in dem Gemaͤhlde der Meſſe
zu Bolſena: Bald ſtrebt er dem Helldunkeln nach,
wie in dem Gemaͤhlde der Befreiung des heiligen Pe-
trus: Bald aber zwingt ihn uͤberhaͤufte Arbeit, ſei-
nen Schuͤlern die Ausfuͤhrung ſeiner Ideen zu uͤber-
laſſen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo
in der Zeichnung fuͤrchtet, ſo verwendet er ſeine ver-
doppelten Kraͤfte an dieſen wichtigſten Theil ſeiner
Kunſt. Hier aber ſteht er in Gefahr, den Anſchein

von
H 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0143" n="121"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Der Vaticani&#x017F;che Palla&#x017F;t.</hi></fw><lb/>
nier, die im Grunde nur eine Verbe&#x017F;&#x017F;erung der er-<lb/>
&#x017F;ten i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>Ausdruck bleibt auch hier der charakteri&#x017F;ti&#x017F;che<lb/>
Vorzug un&#x017F;ers Mei&#x017F;ters. Die dichteri&#x017F;che Erfindung<lb/>
zeigt &#x017F;chon die Kenntniß des Grund&#x017F;atzes, daß alle<lb/>
Figuren in einem Gema&#x0364;hlde einen ungetrennten An-<lb/>
theil an der Handlung nehmen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en: daß &#x017F;ie fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ich, nicht fu&#x0364;r den Zu&#x017F;chauer handeln.</p><lb/>
              <p>Allein die mahleri&#x017F;che Anordnung i&#x017F;t zu &#x017F;ymme-<lb/>
tri&#x017F;ch. Die Zeichnung i&#x017F;t richtig, i&#x017F;t fein, aber zu<lb/>
hart, zu be&#x017F;timmt, im kleinlichen Stile. Die Ge-<lb/>
wa&#x0364;nder &#x017F;ind noch in zu viele Partien getheilt; die<lb/>
Ausfu&#x0364;hrung i&#x017F;t noch zu trocken, der Fleiß zu &#x017F;ehr auf<lb/>
Neben&#x017F;achen ver&#x017F;chwendet. Ja! ein gewi&#x017F;&#x017F;er gothi-<lb/>
&#x017F;cher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Ko&#x0364;pfe<lb/>
der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewa&#x0364;ndern,<lb/>
i&#x017F;t noch nicht abgelegt.</p><lb/>
              <p>Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu<lb/>
&#x017F;ehr in Raphaels Seele gegru&#x0364;ndet, als daß er lange<lb/>
auf die&#x017F;er Stufe ha&#x0364;tte &#x017F;tehen bleiben &#x017F;ollen. Wir fin-<lb/>
den ihn be&#x017F;cha&#x0364;fftigt, ihr auf ver&#x017F;chiedenen Wegen<lb/>
nachzu&#x017F;treben. Bald zieht das Colorit alle &#x017F;eine Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit an &#x017F;ich, wie in dem Gema&#x0364;hlde der Me&#x017F;&#x017F;e<lb/>
zu Bol&#x017F;ena: Bald &#x017F;trebt er dem Helldunkeln nach,<lb/>
wie in dem Gema&#x0364;hlde der Befreiung des heiligen Pe-<lb/>
trus: Bald aber zwingt ihn u&#x0364;berha&#x0364;ufte Arbeit, &#x017F;ei-<lb/>
nen Schu&#x0364;lern die Ausfu&#x0364;hrung &#x017F;einer Ideen zu u&#x0364;ber-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, und da er die Concurrenz des Michael Angelo<lb/>
in der Zeichnung fu&#x0364;rchtet, &#x017F;o verwendet er &#x017F;eine ver-<lb/>
doppelten Kra&#x0364;fte an die&#x017F;en wichtig&#x017F;ten Theil &#x017F;einer<lb/>
Kun&#x017F;t. Hier aber &#x017F;teht er in Gefahr, den An&#x017F;chein<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 5</fw><fw place="bottom" type="catch">von</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0143] Der Vaticaniſche Pallaſt. nier, die im Grunde nur eine Verbeſſerung der er- ſten iſt. Ausdruck bleibt auch hier der charakteriſtiſche Vorzug unſers Meiſters. Die dichteriſche Erfindung zeigt ſchon die Kenntniß des Grundſatzes, daß alle Figuren in einem Gemaͤhlde einen ungetrennten An- theil an der Handlung nehmen muͤſſen: daß ſie fuͤr ſich, nicht fuͤr den Zuſchauer handeln. Allein die mahleriſche Anordnung iſt zu ſymme- triſch. Die Zeichnung iſt richtig, iſt fein, aber zu hart, zu beſtimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge- waͤnder ſind noch in zu viele Partien getheilt; die Ausfuͤhrung iſt noch zu trocken, der Fleiß zu ſehr auf Nebenſachen verſchwendet. Ja! ein gewiſſer gothi- ſcher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Koͤpfe der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewaͤndern, iſt noch nicht abgelegt. Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu ſehr in Raphaels Seele gegruͤndet, als daß er lange auf dieſer Stufe haͤtte ſtehen bleiben ſollen. Wir fin- den ihn beſchaͤfftigt, ihr auf verſchiedenen Wegen nachzuſtreben. Bald zieht das Colorit alle ſeine Auf- merkſamkeit an ſich, wie in dem Gemaͤhlde der Meſſe zu Bolſena: Bald ſtrebt er dem Helldunkeln nach, wie in dem Gemaͤhlde der Befreiung des heiligen Pe- trus: Bald aber zwingt ihn uͤberhaͤufte Arbeit, ſei- nen Schuͤlern die Ausfuͤhrung ſeiner Ideen zu uͤber- laſſen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo in der Zeichnung fuͤrchtet, ſo verwendet er ſeine ver- doppelten Kraͤfte an dieſen wichtigſten Theil ſeiner Kunſt. Hier aber ſteht er in Gefahr, den Anſchein von H 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/143
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/143>, abgerufen am 06.05.2024.