+ Melpomene. Den Kopf mit Weinlaub be- kränzt, hält sie in der rechten Hand eine scheußliche Maske. Diese Hand ist neu, aber die Hälfte der Maske ist alt. Den Fuß mit dem Cothurn bekleidet, setzt sie auf den Stamm eines Baums, und lehnt den Arm mit vorgebeugtem Körper auf das Knie. Die- ser Arm ist neu, nebst der Hand, in welcher sie den Dolch trägt.
Herrlicher Kopf der tragischen Muse.
Der Kopf dieser Statue ist wo nicht der schönste, gewiß der gefälligste von allen weiblichen, die sich aus dem Alterthume auf uns erhalten haben. An vielen derselben bemerken wir eine Ruhe, die an Ernst gränzt. Die Uebereinstimmung der Züge, das Ver- hältniß der Theile zu einander, kurz! die eigentliche ruhige Schönheit, oder die Schönheit ohne Reitz ist es, die uns Bewunderung abpreßt. Aber der Kopf unserer Muse hat den Reitz überher, und fesselt da- durch gleich beim ersten Anblicke unauflöslich. Wir sehen sie in dem Alter, in welchem unser begeisterte Winkelmann die Mädchen mit Rosen vergleicht, die nach einer schönen Morgenröthe beim Aufgang der Sonne aufbrechen. Ihr Ausdruck ist dem einer rei- nen unbefangenen Seele ähnlich, die unter muntern Gesängen Blumen gelesen hat, und durch die Ankunft eines schönen Jünglings unterbrochen wird. Ihr Auge scheint ihn zum ersten Mahle zu erblicken und die Ahndung der Empfindbarkeit, die durch ihre un- befangene heitere Mine durchstrahlt, ist vielleicht dasjenige, wodurch sie unser Herz am sichersten gewinnt.
Aber wie paßt dieser Charakter zu dem Charak- ter einer tragischen Muse? Dies bleibt mir Räthsel.
Der
Der Vaticaniſche Pallaſt.
† Melpomene. Den Kopf mit Weinlaub be- kraͤnzt, haͤlt ſie in der rechten Hand eine ſcheußliche Maſke. Dieſe Hand iſt neu, aber die Haͤlfte der Maſke iſt alt. Den Fuß mit dem Cothurn bekleidet, ſetzt ſie auf den Stamm eines Baums, und lehnt den Arm mit vorgebeugtem Koͤrper auf das Knie. Die- ſer Arm iſt neu, nebſt der Hand, in welcher ſie den Dolch traͤgt.
Herrlicher Kopf der tragiſchen Muſe.
Der Kopf dieſer Statue iſt wo nicht der ſchoͤnſte, gewiß der gefaͤlligſte von allen weiblichen, die ſich aus dem Alterthume auf uns erhalten haben. An vielen derſelben bemerken wir eine Ruhe, die an Ernſt graͤnzt. Die Uebereinſtimmung der Zuͤge, das Ver- haͤltniß der Theile zu einander, kurz! die eigentliche ruhige Schoͤnheit, oder die Schoͤnheit ohne Reitz iſt es, die uns Bewunderung abpreßt. Aber der Kopf unſerer Muſe hat den Reitz uͤberher, und feſſelt da- durch gleich beim erſten Anblicke unaufloͤslich. Wir ſehen ſie in dem Alter, in welchem unſer begeiſterte Winkelmann die Maͤdchen mit Roſen vergleicht, die nach einer ſchoͤnen Morgenroͤthe beim Aufgang der Sonne aufbrechen. Ihr Ausdruck iſt dem einer rei- nen unbefangenen Seele aͤhnlich, die unter muntern Geſaͤngen Blumen geleſen hat, und durch die Ankunft eines ſchoͤnen Juͤnglings unterbrochen wird. Ihr Auge ſcheint ihn zum erſten Mahle zu erblicken und die Ahndung der Empfindbarkeit, die durch ihre un- befangene heitere Mine durchſtrahlt, iſt vielleicht dasjenige, wodurch ſie unſer Herz am ſicherſten gewinnt.
Aber wie paßt dieſer Charakter zu dem Charak- ter einer tragiſchen Muſe? Dies bleibt mir Raͤthſel.
Der
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
† Melpomene. Den Kopf mit Weinlaub be-
kraͤnzt, haͤlt ſie in der rechten Hand eine ſcheußliche
Maſke. Dieſe Hand iſt neu, aber die Haͤlfte der
Maſke iſt alt. Den Fuß mit dem Cothurn bekleidet,
ſetzt ſie auf den Stamm eines Baums, und lehnt den
Arm mit vorgebeugtem Koͤrper auf das Knie. Die-
ſer Arm iſt neu, nebſt der Hand, in welcher ſie den
Dolch traͤgt.
Der Kopf dieſer Statue iſt wo nicht der ſchoͤnſte,
gewiß der gefaͤlligſte von allen weiblichen, die ſich aus
dem Alterthume auf uns erhalten haben. An vielen
derſelben bemerken wir eine Ruhe, die an Ernſt
graͤnzt. Die Uebereinſtimmung der Zuͤge, das Ver-
haͤltniß der Theile zu einander, kurz! die eigentliche
ruhige Schoͤnheit, oder die Schoͤnheit ohne Reitz iſt
es, die uns Bewunderung abpreßt. Aber der Kopf
unſerer Muſe hat den Reitz uͤberher, und feſſelt da-
durch gleich beim erſten Anblicke unaufloͤslich. Wir
ſehen ſie in dem Alter, in welchem unſer begeiſterte
Winkelmann die Maͤdchen mit Roſen vergleicht, die
nach einer ſchoͤnen Morgenroͤthe beim Aufgang der
Sonne aufbrechen. Ihr Ausdruck iſt dem einer rei-
nen unbefangenen Seele aͤhnlich, die unter muntern
Geſaͤngen Blumen geleſen hat, und durch die Ankunft
eines ſchoͤnen Juͤnglings unterbrochen wird. Ihr
Auge ſcheint ihn zum erſten Mahle zu erblicken und
die Ahndung der Empfindbarkeit, die durch ihre un-
befangene heitere Mine durchſtrahlt, iſt vielleicht
dasjenige, wodurch ſie unſer Herz am ſicherſten
gewinnt.
Aber wie paßt dieſer Charakter zu dem Charak-
ter einer tragiſchen Muſe? Dies bleibt mir Raͤthſel.
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/106>, abgerufen am 23.07.2024.
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