Moran(35) hat gehört, daß Kleider Leute machen. Bisher haben ihm seine Umstände nicht erlaubt, daß er viel auf die Kleider hätte wenden können; und eben dieses hat er für die einzige Ur- sache gehalten, warum er so wenig bemerkt, und so wenig geschätzt worden ist. Nun will er der Welt die Augen öffnen. Er überlegt diesen Mor- gen die Sache mit seinem Schneider. Er läßt sich einige prächtige Kleiter verfertigen, und damit ihm diese neue Eqvipage nicht gar zu kostbar falle, so kauft er ein paar reiche Westen von einem Kam- merdiener. Nun bricht er hervor, und läßt sich in allen Spatziergängen, in den Lustspielen, und Antichambern sehen. Er erlangt seinen Zweck. Alle Welt sieht auf diese unbekannte Figur, wie man auf einen unerwarteten Kometen sieht, der einige Zeit unter den Sternen herum irrt. Man fragt, wer er sey? man erfährt es endlich, und in kurzer Zeit weis die ganze Stadt, daß er ein Mensch ohne Erziehung, ohne Wissenschaften, ohne Sitten, mit einem Worte, daß er ein unnüz- zes glänzendes Geschöpf ist. Hätte Moran nicht besser gethan, wenn er in seinem alten Kleide un- bemerkt gestorben wäre? Man würde nicht ge- wußt haben, daß er lebe; aber das würde für ihn sehr vortheilhaft gewesen seyn.
27
Der heutige Tag ist für die Pracht des Nar-
ciß
(35)E - - heißt dieser prächtige Narr.
Das Maͤrchen vom erſten April.
26
Moran(35) hat gehoͤrt, daß Kleider Leute machen. Bisher haben ihm ſeine Umſtaͤnde nicht erlaubt, daß er viel auf die Kleider haͤtte wenden koͤnnen; und eben dieſes hat er fuͤr die einzige Ur- ſache gehalten, warum er ſo wenig bemerkt, und ſo wenig geſchaͤtzt worden iſt. Nun will er der Welt die Augen oͤffnen. Er uͤberlegt dieſen Mor- gen die Sache mit ſeinem Schneider. Er laͤßt ſich einige praͤchtige Kleiter verfertigen, und damit ihm dieſe neue Eqvipage nicht gar zu koſtbar falle, ſo kauft er ein paar reiche Weſten von einem Kam- merdiener. Nun bricht er hervor, und laͤßt ſich in allen Spatziergaͤngen, in den Luſtſpielen, und Antichambern ſehen. Er erlangt ſeinen Zweck. Alle Welt ſieht auf dieſe unbekannte Figur, wie man auf einen unerwarteten Kometen ſieht, der einige Zeit unter den Sternen herum irrt. Man fragt, wer er ſey? man erfaͤhrt es endlich, und in kurzer Zeit weis die ganze Stadt, daß er ein Menſch ohne Erziehung, ohne Wiſſenſchaften, ohne Sitten, mit einem Worte, daß er ein unnuͤz- zes glaͤnzendes Geſchoͤpf iſt. Haͤtte Moran nicht beſſer gethan, wenn er in ſeinem alten Kleide un- bemerkt geſtorben waͤre? Man wuͤrde nicht ge- wußt haben, daß er lebe; aber das wuͤrde fuͤr ihn ſehr vortheilhaft geweſen ſeyn.
27
Der heutige Tag iſt fuͤr die Pracht des Nar-
ciß
(35)E ‒ ‒ heißt dieſer praͤchtige Narr.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0550"n="528[526]"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Das Maͤrchen vom erſten April.</hi></fw><lb/><divn="4"><head>26</head><lb/><p><hirendition="#fr">Moran</hi><noteplace="foot"n="(35)"><hirendition="#aq"><hirendition="#i">E</hi></hi>‒‒ heißt dieſer praͤchtige Narr.</note> hat gehoͤrt, daß Kleider Leute<lb/>
machen. Bisher haben ihm ſeine Umſtaͤnde nicht<lb/>
erlaubt, daß er viel auf die Kleider haͤtte wenden<lb/>
koͤnnen; und eben dieſes hat er fuͤr die einzige Ur-<lb/>ſache gehalten, warum er ſo wenig bemerkt, und<lb/>ſo wenig geſchaͤtzt worden iſt. Nun will er der<lb/>
Welt die Augen oͤffnen. Er uͤberlegt dieſen Mor-<lb/>
gen die Sache mit ſeinem Schneider. Er laͤßt ſich<lb/>
einige praͤchtige Kleiter verfertigen, und damit<lb/>
ihm dieſe neue Eqvipage nicht gar zu koſtbar falle,<lb/>ſo kauft er ein paar reiche Weſten von einem Kam-<lb/>
merdiener. Nun bricht er hervor, und laͤßt ſich<lb/>
in allen Spatziergaͤngen, in den Luſtſpielen, und<lb/>
Antichambern ſehen. Er erlangt ſeinen Zweck.<lb/>
Alle Welt ſieht auf dieſe unbekannte Figur, wie<lb/>
man auf einen unerwarteten Kometen ſieht, der<lb/>
einige Zeit unter den Sternen herum irrt. Man<lb/>
fragt, wer er ſey? man erfaͤhrt es endlich, und<lb/>
in kurzer Zeit weis die ganze Stadt, daß er ein<lb/>
Menſch ohne Erziehung, ohne Wiſſenſchaften,<lb/>
ohne Sitten, mit einem Worte, daß er ein unnuͤz-<lb/>
zes glaͤnzendes Geſchoͤpf iſt. Haͤtte Moran nicht<lb/>
beſſer gethan, wenn er in ſeinem alten Kleide un-<lb/>
bemerkt geſtorben waͤre? Man wuͤrde nicht ge-<lb/>
wußt haben, daß er lebe; aber das wuͤrde fuͤr ihn<lb/>ſehr vortheilhaft geweſen ſeyn.</p></div><lb/><divn="4"><head>27</head><lb/><p>Der heutige Tag iſt fuͤr die Pracht des <hirendition="#fr">Nar-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">ciß</hi></fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[528[526]/0550]
Das Maͤrchen vom erſten April.
26
Moran (35) hat gehoͤrt, daß Kleider Leute
machen. Bisher haben ihm ſeine Umſtaͤnde nicht
erlaubt, daß er viel auf die Kleider haͤtte wenden
koͤnnen; und eben dieſes hat er fuͤr die einzige Ur-
ſache gehalten, warum er ſo wenig bemerkt, und
ſo wenig geſchaͤtzt worden iſt. Nun will er der
Welt die Augen oͤffnen. Er uͤberlegt dieſen Mor-
gen die Sache mit ſeinem Schneider. Er laͤßt ſich
einige praͤchtige Kleiter verfertigen, und damit
ihm dieſe neue Eqvipage nicht gar zu koſtbar falle,
ſo kauft er ein paar reiche Weſten von einem Kam-
merdiener. Nun bricht er hervor, und laͤßt ſich
in allen Spatziergaͤngen, in den Luſtſpielen, und
Antichambern ſehen. Er erlangt ſeinen Zweck.
Alle Welt ſieht auf dieſe unbekannte Figur, wie
man auf einen unerwarteten Kometen ſieht, der
einige Zeit unter den Sternen herum irrt. Man
fragt, wer er ſey? man erfaͤhrt es endlich, und
in kurzer Zeit weis die ganze Stadt, daß er ein
Menſch ohne Erziehung, ohne Wiſſenſchaften,
ohne Sitten, mit einem Worte, daß er ein unnuͤz-
zes glaͤnzendes Geſchoͤpf iſt. Haͤtte Moran nicht
beſſer gethan, wenn er in ſeinem alten Kleide un-
bemerkt geſtorben waͤre? Man wuͤrde nicht ge-
wußt haben, daß er lebe; aber das wuͤrde fuͤr ihn
ſehr vortheilhaft geweſen ſeyn.
27
Der heutige Tag iſt fuͤr die Pracht des Nar-
ciß
(35) E ‒ ‒ heißt dieſer praͤchtige Narr.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 528[526]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/550>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.