Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

Bild:
<< vorherige Seite



dass man eine Tugend unterlaesst! Aber ich
will mir diese Art der Entschuldigung zu Nutze
machen. Die Begierde, und die Gelegenheit
Boeses zu reden, ist ein bewaehrtes Mittel, un-
zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit,
wenn die Gesellschaft Boeses redet, entfernt sie
sich von der Seuche zu spielen, und ein müh-
sam verdientes Vermoegen durch einen un-
glücklichen Augenblick unter aengstlicher Hoff-
nung zu zerstreuen. Der Richter versaeumt,
ungerecht zu seyn, wenn er Boeses von andern
redet. Der Advocat merkt es nicht, dass zween
Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und
laesst ihnen daher dieses Glück ungestoert. Der
Arzt, wenn er Uebels von andern spricht, ver-
gisst sein Amt, und die Menschen bleiben leben!

Die erste Regel, die uns der Moralist ein-
praegt, ist diese, dass man alle Mühe anwenden
soll, sich und die Welt kennen zu lernen. Ist
wohl eine bequemere Art dieses zu lernen, als
wenn man die Gesellschaften fleissig besucht, wo
am meisten Boeses geredet wird? Man waehle
sich nur zwo der besten, und die besten sind
diese, wo eine Betschwester oder ein Müssig-
gaenger das grosse Wort führen; so lernt man
die ganze Stadt kennen, und auch diese beiden
Gesellschaften lerne man kennen, weil gewiss
keine die andere schonen wird. Philen ist mild-
thaetig. Er ernaehrt mit seinem eignen Brodte
die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in
aeusserster Armuth hinterliess, weil er zu ehr-

lich



daſs man eine Tugend unterlaeſst! Aber ich
will mir dieſe Art der Entſchuldigung zu Nutze
machen. Die Begierde, und die Gelegenheit
Boeſes zu reden, iſt ein bewaehrtes Mittel, un-
zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit,
wenn die Geſellſchaft Boeſes redet, entfernt ſie
ſich von der Seuche zu ſpielen, und ein müh-
ſam verdientes Vermoegen durch einen un-
glücklichen Augenblick unter aengſtlicher Hoff-
nung zu zerſtreuen. Der Richter verſaeumt,
ungerecht zu ſeyn, wenn er Boeſes von andern
redet. Der Advocat merkt es nicht, daſs zween
Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und
laeſst ihnen daher dieſes Glück ungeſtoert. Der
Arzt, wenn er Uebels von andern ſpricht, ver-
giſst ſein Amt, und die Menſchen bleiben leben!

Die erſte Regel, die uns der Moraliſt ein-
praegt, iſt dieſe, daſs man alle Mühe anwenden
ſoll, ſich und die Welt kennen zu lernen. Iſt
wohl eine bequemere Art dieſes zu lernen, als
wenn man die Geſellſchaften fleiſsig beſucht, wo
am meiſten Boeſes geredet wird? Man waehle
ſich nur zwo der beſten, und die beſten ſind
dieſe, wo eine Betſchweſter oder ein Müſsig-
gaenger das groſse Wort führen; ſo lernt man
die ganze Stadt kennen, und auch dieſe beiden
Geſellſchaften lerne man kennen, weil gewiſs
keine die andere ſchonen wird. Philen iſt mild-
thaetig. Er ernaehrt mit ſeinem eignen Brodte
die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in
aeuſserſter Armuth hinterlieſs, weil er zu ehr-

lich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p>
            <pb facs="#f0436" n="414"/>
            <fw place="top" type="header">
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            </fw> <hi rendition="#aq">da&#x017F;s man eine Tugend unterlae&#x017F;st! Aber ich<lb/>
will mir die&#x017F;e Art der Ent&#x017F;chuldigung zu Nutze<lb/>
machen. Die Begierde, und die Gelegenheit<lb/>
Boe&#x017F;es zu reden, i&#x017F;t ein bewaehrtes Mittel, un-<lb/>
zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit,<lb/>
wenn die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft Boe&#x017F;es redet, entfernt &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich von der Seuche zu &#x017F;pielen, und ein müh-<lb/>
&#x017F;am verdientes Vermoegen durch einen un-<lb/>
glücklichen Augenblick unter aeng&#x017F;tlicher Hoff-<lb/>
nung zu zer&#x017F;treuen. Der Richter ver&#x017F;aeumt,<lb/>
ungerecht zu &#x017F;eyn, wenn er Boe&#x017F;es von andern<lb/>
redet. Der Advocat merkt es nicht, da&#x017F;s zween<lb/>
Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und<lb/>
lae&#x017F;st ihnen daher die&#x017F;es Glück unge&#x017F;toert. Der<lb/>
Arzt, wenn er Uebels von andern &#x017F;pricht, ver-<lb/>
gi&#x017F;st &#x017F;ein Amt, und die Men&#x017F;chen bleiben leben!</hi> </p><lb/>
          <p> <hi rendition="#aq">Die er&#x017F;te Regel, die uns der Morali&#x017F;t ein-<lb/>
praegt, i&#x017F;t die&#x017F;e, da&#x017F;s man alle Mühe anwenden<lb/>
&#x017F;oll, &#x017F;ich und die Welt kennen zu lernen. I&#x017F;t<lb/>
wohl eine bequemere Art die&#x017F;es zu lernen, als<lb/>
wenn man die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften flei&#x017F;sig be&#x017F;ucht, wo<lb/>
am mei&#x017F;ten Boe&#x017F;es geredet wird? Man waehle<lb/>
&#x017F;ich nur zwo der be&#x017F;ten, und die be&#x017F;ten &#x017F;ind<lb/>
die&#x017F;e, wo eine Bet&#x017F;chwe&#x017F;ter oder ein Mü&#x017F;sig-<lb/>
gaenger das gro&#x017F;se Wort führen; &#x017F;o lernt man<lb/>
die ganze Stadt kennen, und auch die&#x017F;e beiden<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften lerne man kennen, weil gewi&#x017F;s<lb/>
keine die andere &#x017F;chonen wird. <hi rendition="#i">Philen</hi> i&#x017F;t mild-<lb/>
thaetig. Er ernaehrt mit &#x017F;einem eignen Brodte<lb/>
die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in<lb/>
aeu&#x017F;ser&#x017F;ter Armuth hinterlie&#x017F;s, weil er zu ehr-</hi><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">lich</hi> </fw><lb/>
          </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[414/0436] daſs man eine Tugend unterlaeſst! Aber ich will mir dieſe Art der Entſchuldigung zu Nutze machen. Die Begierde, und die Gelegenheit Boeſes zu reden, iſt ein bewaehrtes Mittel, un- zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit, wenn die Geſellſchaft Boeſes redet, entfernt ſie ſich von der Seuche zu ſpielen, und ein müh- ſam verdientes Vermoegen durch einen un- glücklichen Augenblick unter aengſtlicher Hoff- nung zu zerſtreuen. Der Richter verſaeumt, ungerecht zu ſeyn, wenn er Boeſes von andern redet. Der Advocat merkt es nicht, daſs zween Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und laeſst ihnen daher dieſes Glück ungeſtoert. Der Arzt, wenn er Uebels von andern ſpricht, ver- giſst ſein Amt, und die Menſchen bleiben leben! Die erſte Regel, die uns der Moraliſt ein- praegt, iſt dieſe, daſs man alle Mühe anwenden ſoll, ſich und die Welt kennen zu lernen. Iſt wohl eine bequemere Art dieſes zu lernen, als wenn man die Geſellſchaften fleiſsig beſucht, wo am meiſten Boeſes geredet wird? Man waehle ſich nur zwo der beſten, und die beſten ſind dieſe, wo eine Betſchweſter oder ein Müſsig- gaenger das groſse Wort führen; ſo lernt man die ganze Stadt kennen, und auch dieſe beiden Geſellſchaften lerne man kennen, weil gewiſs keine die andere ſchonen wird. Philen iſt mild- thaetig. Er ernaehrt mit ſeinem eignen Brodte die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in aeuſserſter Armuth hinterlieſs, weil er zu ehr- lich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/436
Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/436>, abgerufen am 17.05.2024.