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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
chelt unter einer Wolke von Runzeln dem Wagen
entgegen. Vermuthet sie aus der Menge der
Bedienten, daß die Reisenden von vornehmem
Stande sind: so wallt ihr adliches Geblüte noch
einmal so heftig; sie reißt das warme Halstuch
herab, und wirft einen verrätherischen Palatin
flüchtig um, unter welchem der traurige Rest ei-
ner vierzigjährigen Reizung hervorgepreßt wird, der
sich über Luft und Sonne wundert, die er seit
zwanzig Jahren entwohnt ist. Jhr Vater war
ein ehrlicher Junker, den sein Acker, und der Han-
del mit gemästeten Schweinen nährte; denn ein
Kaufmann konnte er nicht werden, ohne seinen
alten Adel zu beschimpfen. Ein Soldat hätte er
werden können; aber er hatte seine guten Ursa-
chen, warum er es nicht ward. Er blieb also
auf seiner väterlichen Hufe, nahm eine gnädige
Viehmagd aus eben so altem Geschlechte, erhielt
dadurch seinen Adel unbefleckt, bestellte seine Fel-
der, predigte die tapfern Thaten seiner Vorfah-
ren, soff mit seinen Nachbarn, und zeugte Kin-
der, von denen keines mehr übrig ist, als unser
Fräulein. Sie ward also von den Jhrigen mit
verdoppelter Zärtlichkeit erzogen, und ihre hohen
Aeltern liebten sie, wie die Alten ihre Jungen
lieben. Sie war noch nicht zwölf Jahr alt, als
ihre Mama so viel Schönheit an ihr zu merken
glaubte, daß sie für nöthig hielt, argwöhnisch zu
werden. Jeden Reuter auf der Straße sahe sie
für einen irrenden Ritter an. Alle Augenblicke
unterhielt sie ihre liebe Tochter mit den Vorzügen,

die
S 4

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
chelt unter einer Wolke von Runzeln dem Wagen
entgegen. Vermuthet ſie aus der Menge der
Bedienten, daß die Reiſenden von vornehmem
Stande ſind: ſo wallt ihr adliches Gebluͤte noch
einmal ſo heftig; ſie reißt das warme Halstuch
herab, und wirft einen verraͤtheriſchen Palatin
fluͤchtig um, unter welchem der traurige Reſt ei-
ner vierzigjaͤhrigen Reizung hervorgepreßt wird, der
ſich uͤber Luft und Sonne wundert, die er ſeit
zwanzig Jahren entwohnt iſt. Jhr Vater war
ein ehrlicher Junker, den ſein Acker, und der Han-
del mit gemaͤſteten Schweinen naͤhrte; denn ein
Kaufmann konnte er nicht werden, ohne ſeinen
alten Adel zu beſchimpfen. Ein Soldat haͤtte er
werden koͤnnen; aber er hatte ſeine guten Urſa-
chen, warum er es nicht ward. Er blieb alſo
auf ſeiner vaͤterlichen Hufe, nahm eine gnaͤdige
Viehmagd aus eben ſo altem Geſchlechte, erhielt
dadurch ſeinen Adel unbefleckt, beſtellte ſeine Fel-
der, predigte die tapfern Thaten ſeiner Vorfah-
ren, ſoff mit ſeinen Nachbarn, und zeugte Kin-
der, von denen keines mehr uͤbrig iſt, als unſer
Fraͤulein. Sie ward alſo von den Jhrigen mit
verdoppelter Zaͤrtlichkeit erzogen, und ihre hohen
Aeltern liebten ſie, wie die Alten ihre Jungen
lieben. Sie war noch nicht zwoͤlf Jahr alt, als
ihre Mama ſo viel Schoͤnheit an ihr zu merken
glaubte, daß ſie fuͤr noͤthig hielt, argwoͤhniſch zu
werden. Jeden Reuter auf der Straße ſahe ſie
fuͤr einen irrenden Ritter an. Alle Augenblicke
unterhielt ſie ihre liebe Tochter mit den Vorzuͤgen,

die
S 4
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[279/0301] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. chelt unter einer Wolke von Runzeln dem Wagen entgegen. Vermuthet ſie aus der Menge der Bedienten, daß die Reiſenden von vornehmem Stande ſind: ſo wallt ihr adliches Gebluͤte noch einmal ſo heftig; ſie reißt das warme Halstuch herab, und wirft einen verraͤtheriſchen Palatin fluͤchtig um, unter welchem der traurige Reſt ei- ner vierzigjaͤhrigen Reizung hervorgepreßt wird, der ſich uͤber Luft und Sonne wundert, die er ſeit zwanzig Jahren entwohnt iſt. Jhr Vater war ein ehrlicher Junker, den ſein Acker, und der Han- del mit gemaͤſteten Schweinen naͤhrte; denn ein Kaufmann konnte er nicht werden, ohne ſeinen alten Adel zu beſchimpfen. Ein Soldat haͤtte er werden koͤnnen; aber er hatte ſeine guten Urſa- chen, warum er es nicht ward. Er blieb alſo auf ſeiner vaͤterlichen Hufe, nahm eine gnaͤdige Viehmagd aus eben ſo altem Geſchlechte, erhielt dadurch ſeinen Adel unbefleckt, beſtellte ſeine Fel- der, predigte die tapfern Thaten ſeiner Vorfah- ren, ſoff mit ſeinen Nachbarn, und zeugte Kin- der, von denen keines mehr uͤbrig iſt, als unſer Fraͤulein. Sie ward alſo von den Jhrigen mit verdoppelter Zaͤrtlichkeit erzogen, und ihre hohen Aeltern liebten ſie, wie die Alten ihre Jungen lieben. Sie war noch nicht zwoͤlf Jahr alt, als ihre Mama ſo viel Schoͤnheit an ihr zu merken glaubte, daß ſie fuͤr noͤthig hielt, argwoͤhniſch zu werden. Jeden Reuter auf der Straße ſahe ſie fuͤr einen irrenden Ritter an. Alle Augenblicke unterhielt ſie ihre liebe Tochter mit den Vorzuͤgen, die S 4

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/301>, abgerufen am 22.11.2024.