"Die Menschen sind so sinnreich, daß sie viel- "mal ihren größten Thorheiten einen "frommen Anstrich zu geben wissen. Bis "auf die übereilten Ehen erstreckt sich diese Art "der Andacht. Viele heirathen, ohne zu überle- "gen, ob sie im Stande sind, den unentbehrlichen "Aufwand zu bestreiten, welchen eine Wirthschaft "erfodert. Sie sehen die Noth voraus, in die sie "sich und die ihrigen stürzen; sie können aber der "Liebe nicht widerstehn. Und weil sie in andern "Handlungen vernünftig genug sind, nichts unbe- "sonnenes zu unternehmen: so suchen sie sich zu be- "reden, daß diejenige Thorheit, zu welcher sie sich "itzt anschicken, eine Art von guten Werken sey, "wo sie ihr christliches Vertrauen auf die göttliche "Vorsorge an den Tag legen, und den Himmel, "so zu sagen, bey seinem Versprechen fest halten "wollen, damit er Anstalt mache, sie zu ernähren. "Sie beten, und beten vielleicht andächtig. Aber "auch eine Thorheit, die man mit Gebet anfängt, "bleibt dennoch eine Thorheit, und zieht oft die "unglücklichsten Folgen nach sich, welche in dem "gegenwärtigen Falle desto empfindlicher sind, ie "weniger wir uns vorwerfen wollen, daß die "Schuld unser sey. Wir wollen den Himmel "zur Verantwortung ziehn. Wie leicht wird uns "das Herz, wenn wir iemanden finden, dem wir "unsre Uebereilung Schuld geben können! Ein
leicht-
Satyriſche Briefe.
„Die Menſchen ſind ſo ſinnreich, daß ſie viel- „mal ihren groͤßten Thorheiten einen „frommen Anſtrich zu geben wiſſen. Bis „auf die uͤbereilten Ehen erſtreckt ſich dieſe Art „der Andacht. Viele heirathen, ohne zu uͤberle- „gen, ob ſie im Stande ſind, den unentbehrlichen „Aufwand zu beſtreiten, welchen eine Wirthſchaft „erfodert. Sie ſehen die Noth voraus, in die ſie „ſich und die ihrigen ſtuͤrzen; ſie koͤnnen aber der „Liebe nicht widerſtehn. Und weil ſie in andern „Handlungen vernuͤnftig genug ſind, nichts unbe- „ſonnenes zu unternehmen: ſo ſuchen ſie ſich zu be- „reden, daß diejenige Thorheit, zu welcher ſie ſich „itzt anſchicken, eine Art von guten Werken ſey, „wo ſie ihr chriſtliches Vertrauen auf die goͤttliche „Vorſorge an den Tag legen, und den Himmel, „ſo zu ſagen, bey ſeinem Verſprechen feſt halten „wollen, damit er Anſtalt mache, ſie zu ernaͤhren. „Sie beten, und beten vielleicht andaͤchtig. Aber „auch eine Thorheit, die man mit Gebet anfaͤngt, „bleibt dennoch eine Thorheit, und zieht oft die „ungluͤcklichſten Folgen nach ſich, welche in dem „gegenwaͤrtigen Falle deſto empfindlicher ſind, ie „weniger wir uns vorwerfen wollen, daß die „Schuld unſer ſey. Wir wollen den Himmel „zur Verantwortung ziehn. Wie leicht wird uns „das Herz, wenn wir iemanden finden, dem wir „unſre Uebereilung Schuld geben koͤnnen! Ein
leicht-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0384"n="356"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Satyriſche Briefe.</hi></fw><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>„<hirendition="#in">D</hi>ie Menſchen ſind ſo ſinnreich, daß ſie viel-<lb/>„mal ihren groͤßten Thorheiten einen<lb/>„frommen Anſtrich zu geben wiſſen. Bis<lb/>„auf die uͤbereilten Ehen erſtreckt ſich dieſe Art<lb/>„der Andacht. Viele heirathen, ohne zu uͤberle-<lb/>„gen, ob ſie im Stande ſind, den unentbehrlichen<lb/>„Aufwand zu beſtreiten, welchen eine Wirthſchaft<lb/>„erfodert. Sie ſehen die Noth voraus, in die ſie<lb/>„ſich und die ihrigen ſtuͤrzen; ſie koͤnnen aber der<lb/>„Liebe nicht widerſtehn. Und weil ſie in andern<lb/>„Handlungen vernuͤnftig genug ſind, nichts unbe-<lb/>„ſonnenes zu unternehmen: ſo ſuchen ſie ſich zu be-<lb/>„reden, daß diejenige Thorheit, zu welcher ſie ſich<lb/>„itzt anſchicken, eine Art von guten Werken ſey,<lb/>„wo ſie ihr chriſtliches Vertrauen auf die goͤttliche<lb/>„Vorſorge an den Tag legen, und den Himmel,<lb/>„ſo zu ſagen, bey ſeinem Verſprechen feſt halten<lb/>„wollen, damit er Anſtalt mache, ſie zu ernaͤhren.<lb/>„Sie beten, und beten vielleicht andaͤchtig. Aber<lb/>„auch eine Thorheit, die man mit Gebet anfaͤngt,<lb/>„bleibt dennoch eine Thorheit, und zieht oft die<lb/>„ungluͤcklichſten Folgen nach ſich, welche in dem<lb/>„gegenwaͤrtigen Falle deſto empfindlicher ſind, ie<lb/>„weniger wir uns vorwerfen wollen, daß die<lb/>„Schuld unſer ſey. Wir wollen den Himmel<lb/>„zur Verantwortung ziehn. Wie leicht wird uns<lb/>„das Herz, wenn wir iemanden finden, dem wir<lb/>„unſre Uebereilung Schuld geben koͤnnen! Ein<lb/><fwplace="bottom"type="catch">leicht-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[356/0384]
Satyriſche Briefe.
„Die Menſchen ſind ſo ſinnreich, daß ſie viel-
„mal ihren groͤßten Thorheiten einen
„frommen Anſtrich zu geben wiſſen. Bis
„auf die uͤbereilten Ehen erſtreckt ſich dieſe Art
„der Andacht. Viele heirathen, ohne zu uͤberle-
„gen, ob ſie im Stande ſind, den unentbehrlichen
„Aufwand zu beſtreiten, welchen eine Wirthſchaft
„erfodert. Sie ſehen die Noth voraus, in die ſie
„ſich und die ihrigen ſtuͤrzen; ſie koͤnnen aber der
„Liebe nicht widerſtehn. Und weil ſie in andern
„Handlungen vernuͤnftig genug ſind, nichts unbe-
„ſonnenes zu unternehmen: ſo ſuchen ſie ſich zu be-
„reden, daß diejenige Thorheit, zu welcher ſie ſich
„itzt anſchicken, eine Art von guten Werken ſey,
„wo ſie ihr chriſtliches Vertrauen auf die goͤttliche
„Vorſorge an den Tag legen, und den Himmel,
„ſo zu ſagen, bey ſeinem Verſprechen feſt halten
„wollen, damit er Anſtalt mache, ſie zu ernaͤhren.
„Sie beten, und beten vielleicht andaͤchtig. Aber
„auch eine Thorheit, die man mit Gebet anfaͤngt,
„bleibt dennoch eine Thorheit, und zieht oft die
„ungluͤcklichſten Folgen nach ſich, welche in dem
„gegenwaͤrtigen Falle deſto empfindlicher ſind, ie
„weniger wir uns vorwerfen wollen, daß die
„Schuld unſer ſey. Wir wollen den Himmel
„zur Verantwortung ziehn. Wie leicht wird uns
„das Herz, wenn wir iemanden finden, dem wir
„unſre Uebereilung Schuld geben koͤnnen! Ein
leicht-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/384>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.