Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite
Satyrische Briefe.


"Seit der Zeit, daß ich mir vorgenommen
"habe, satyrische Briefe zu schreiben,
"bin ich von diesem Gedanken so voll ge-
"wesen, daß fast eine jede merkwürdige Stelle, die
"ich in einem Buche lese, mich auf den Einfall
"bringt, einen Brief darüber auszuarbeiten. Eben
"so gieng mir es mit der Stelle in der Odyssee,
"wo ich durch die grausame Freundschaft des Po-
"lyphems auf eine empfindliche Art gerührt ward.
"Jch wünschte mir, diesen Gedanken in einem
"Briefe anzubringen; ich wandte meinen Poly-
"phem auf alle Seiten herum, um eine Aehnlich-
"keit mit einem Manne zu finden, dessen Cha-
"rakter etwas lächerliches und tadelnswürdiges
"an sich hätte. Endlich schuf ich mir eine gewisse
"Art eines ungerechten Richters. Jch bewaff-
"nete ihn mit einiger Gewalt, Schaden zu thun;
"ich baute ihm eine Höhle, aus welcher er das um-
"liegende Land schrecken sollte; ich schaltete hin
"und wieder kleine Episoden ein, und endlich
"ward der Brief fertig, der nachsteht.

"Es ist für einen Verfasser nicht vortheil-
"haft, wenn der Leser gar zu genau weiß, was
"die Gelegenheit zu einer Schrift gegeben, und
"wie sich ein Gedanke aus dem andern entwickelt
"hat. Sagt man ihm dasjenige zu zeitig, was er
"selbst entdecken sollte, so fällt das Unerwartete,

"und
Satyriſche Briefe.


Seit der Zeit, daß ich mir vorgenommen
„habe, ſatyriſche Briefe zu ſchreiben,
„bin ich von dieſem Gedanken ſo voll ge-
„weſen, daß faſt eine jede merkwuͤrdige Stelle, die
„ich in einem Buche leſe, mich auf den Einfall
„bringt, einen Brief daruͤber auszuarbeiten. Eben
„ſo gieng mir es mit der Stelle in der Odyſſee,
„wo ich durch die grauſame Freundſchaft des Po-
„lyphems auf eine empfindliche Art geruͤhrt ward.
„Jch wuͤnſchte mir, dieſen Gedanken in einem
„Briefe anzubringen; ich wandte meinen Poly-
„phem auf alle Seiten herum, um eine Aehnlich-
„keit mit einem Manne zu finden, deſſen Cha-
„rakter etwas laͤcherliches und tadelnswuͤrdiges
„an ſich haͤtte. Endlich ſchuf ich mir eine gewiſſe
„Art eines ungerechten Richters. Jch bewaff-
„nete ihn mit einiger Gewalt, Schaden zu thun;
„ich baute ihm eine Hoͤhle, aus welcher er das um-
„liegende Land ſchrecken ſollte; ich ſchaltete hin
„und wieder kleine Epiſoden ein, und endlich
„ward der Brief fertig, der nachſteht.

„Es iſt fuͤr einen Verfaſſer nicht vortheil-
„haft, wenn der Leſer gar zu genau weiß, was
„die Gelegenheit zu einer Schrift gegeben, und
„wie ſich ein Gedanke aus dem andern entwickelt
„hat. Sagt man ihm dasjenige zu zeitig, was er
„ſelbſt entdecken ſollte, ſo faͤllt das Unerwartete,

„und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0172" n="144"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Satyri&#x017F;che Briefe.</hi> </fw><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>&#x201E;<hi rendition="#in">S</hi>eit der Zeit, daß ich mir vorgenommen<lb/>
&#x201E;habe, &#x017F;atyri&#x017F;che Briefe zu &#x017F;chreiben,<lb/>
&#x201E;bin ich von die&#x017F;em Gedanken &#x017F;o voll ge-<lb/>
&#x201E;we&#x017F;en, daß fa&#x017F;t eine jede merkwu&#x0364;rdige Stelle, die<lb/>
&#x201E;ich in einem Buche le&#x017F;e, mich auf den Einfall<lb/>
&#x201E;bringt, einen Brief daru&#x0364;ber auszuarbeiten. Eben<lb/>
&#x201E;&#x017F;o gieng mir es mit der Stelle in der Ody&#x017F;&#x017F;ee,<lb/>
&#x201E;wo ich durch die grau&#x017F;ame Freund&#x017F;chaft des Po-<lb/>
&#x201E;lyphems auf eine empfindliche Art geru&#x0364;hrt ward.<lb/>
&#x201E;Jch wu&#x0364;n&#x017F;chte mir, die&#x017F;en Gedanken in einem<lb/>
&#x201E;Briefe anzubringen; ich wandte meinen Poly-<lb/>
&#x201E;phem auf alle Seiten herum, um eine Aehnlich-<lb/>
&#x201E;keit mit einem Manne zu finden, de&#x017F;&#x017F;en Cha-<lb/>
&#x201E;rakter etwas la&#x0364;cherliches und tadelnswu&#x0364;rdiges<lb/>
&#x201E;an &#x017F;ich ha&#x0364;tte. Endlich &#x017F;chuf ich mir eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x201E;Art eines ungerechten Richters. Jch bewaff-<lb/>
&#x201E;nete ihn mit einiger Gewalt, Schaden zu thun;<lb/>
&#x201E;ich baute ihm eine Ho&#x0364;hle, aus welcher er das um-<lb/>
&#x201E;liegende Land &#x017F;chrecken &#x017F;ollte; ich &#x017F;chaltete hin<lb/>
&#x201E;und wieder kleine Epi&#x017F;oden ein, und endlich<lb/>
&#x201E;ward der Brief fertig, der nach&#x017F;teht.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Es i&#x017F;t fu&#x0364;r einen Verfa&#x017F;&#x017F;er nicht vortheil-<lb/>
&#x201E;haft, wenn der Le&#x017F;er gar zu genau weiß, was<lb/>
&#x201E;die Gelegenheit zu einer Schrift gegeben, und<lb/>
&#x201E;wie &#x017F;ich ein Gedanke aus dem andern entwickelt<lb/>
&#x201E;hat. Sagt man ihm dasjenige zu zeitig, was er<lb/>
&#x201E;&#x017F;elb&#x017F;t entdecken &#x017F;ollte, &#x017F;o fa&#x0364;llt das Unerwartete,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;und</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0172] Satyriſche Briefe. „Seit der Zeit, daß ich mir vorgenommen „habe, ſatyriſche Briefe zu ſchreiben, „bin ich von dieſem Gedanken ſo voll ge- „weſen, daß faſt eine jede merkwuͤrdige Stelle, die „ich in einem Buche leſe, mich auf den Einfall „bringt, einen Brief daruͤber auszuarbeiten. Eben „ſo gieng mir es mit der Stelle in der Odyſſee, „wo ich durch die grauſame Freundſchaft des Po- „lyphems auf eine empfindliche Art geruͤhrt ward. „Jch wuͤnſchte mir, dieſen Gedanken in einem „Briefe anzubringen; ich wandte meinen Poly- „phem auf alle Seiten herum, um eine Aehnlich- „keit mit einem Manne zu finden, deſſen Cha- „rakter etwas laͤcherliches und tadelnswuͤrdiges „an ſich haͤtte. Endlich ſchuf ich mir eine gewiſſe „Art eines ungerechten Richters. Jch bewaff- „nete ihn mit einiger Gewalt, Schaden zu thun; „ich baute ihm eine Hoͤhle, aus welcher er das um- „liegende Land ſchrecken ſollte; ich ſchaltete hin „und wieder kleine Epiſoden ein, und endlich „ward der Brief fertig, der nachſteht. „Es iſt fuͤr einen Verfaſſer nicht vortheil- „haft, wenn der Leſer gar zu genau weiß, was „die Gelegenheit zu einer Schrift gegeben, und „wie ſich ein Gedanke aus dem andern entwickelt „hat. Sagt man ihm dasjenige zu zeitig, was er „ſelbſt entdecken ſollte, ſo faͤllt das Unerwartete, „und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/172
Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/172>, abgerufen am 24.11.2024.