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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 2. Leipzig, 1751.

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Versuch
und welches nicht leiden kann, daß man ihm alle
diese Wahrheiten vorsagt. Wer so verwegen ist,
dieses zu thun, der ist sein Feind.

Menschenfeinde also sind Leute, welche die
Wahrheit sagen.
Ein häßliches Laster, wodurch
man die glückselige Einbildung andrer Leute stört,
und zugleich sein eignes Glück hindert!

Ein Menschenfeind würde ich seyn, wenn ich
sagen wollte, daß Neran, unter dem Vorwande sei-
ner obrigkeitlichen Pflicht, Ungerechtigkeiten ausüb-
te, die Bürger um ihre Nahrung brächte, mit dem
Schweiße gedruckter Unterthanen wucherte, die
Seufzer der Wittwen wider sich reizte, und das
Vermögen verlaßner Mündel an sich risse; daß diese
noch in funfzig Jahren mit Thränen ihren Kindern die
Räubereyen des Nerans wieder erzählen, und noch
im Alter sein Andenken verfluchen würden. Alles
dieses thut Neran; es ist wahr. Jch aber hüte
mich wohl, dem Neran dieses vorzuhalten, denn ich
mag kein Menschenfeind seyn. Einen Vater des
Vaterlandes, einen Priester der Gerechtigkeit, den
großen Neran nenne ich ihn, so oft ich zu ihm komme;
dieses aber geschieht alle Mittage um zwölf Uhr, und
ich befinde mich wohl dabey. Wie Neran ist: So
sind noch unzählig viele andre, und ich würde von den
größten Pallästen anfangen, und bis in die Hütten
des geringsten Landmanns gehen können, wenn ich

nöthig

Verſuch
und welches nicht leiden kann, daß man ihm alle
dieſe Wahrheiten vorſagt. Wer ſo verwegen iſt,
dieſes zu thun, der iſt ſein Feind.

Menſchenfeinde alſo ſind Leute, welche die
Wahrheit ſagen.
Ein haͤßliches Laſter, wodurch
man die gluͤckſelige Einbildung andrer Leute ſtoͤrt,
und zugleich ſein eignes Gluͤck hindert!

Ein Menſchenfeind wuͤrde ich ſeyn, wenn ich
ſagen wollte, daß Neran, unter dem Vorwande ſei-
ner obrigkeitlichen Pflicht, Ungerechtigkeiten ausuͤb-
te, die Buͤrger um ihre Nahrung braͤchte, mit dem
Schweiße gedruckter Unterthanen wucherte, die
Seufzer der Wittwen wider ſich reizte, und das
Vermoͤgen verlaßner Muͤndel an ſich riſſe; daß dieſe
noch in funfzig Jahren mit Thraͤnen ihren Kindern die
Raͤubereyen des Nerans wieder erzaͤhlen, und noch
im Alter ſein Andenken verfluchen wuͤrden. Alles
dieſes thut Neran; es iſt wahr. Jch aber huͤte
mich wohl, dem Neran dieſes vorzuhalten, denn ich
mag kein Menſchenfeind ſeyn. Einen Vater des
Vaterlandes, einen Prieſter der Gerechtigkeit, den
großen Neran nenne ich ihn, ſo oft ich zu ihm komme;
dieſes aber geſchieht alle Mittage um zwoͤlf Uhr, und
ich befinde mich wohl dabey. Wie Neran iſt: So
ſind noch unzaͤhlig viele andre, und ich wuͤrde von den
groͤßten Pallaͤſten anfangen, und bis in die Huͤtten
des geringſten Landmanns gehen koͤnnen, wenn ich

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[196/0196] Verſuch und welches nicht leiden kann, daß man ihm alle dieſe Wahrheiten vorſagt. Wer ſo verwegen iſt, dieſes zu thun, der iſt ſein Feind. Menſchenfeinde alſo ſind Leute, welche die Wahrheit ſagen. Ein haͤßliches Laſter, wodurch man die gluͤckſelige Einbildung andrer Leute ſtoͤrt, und zugleich ſein eignes Gluͤck hindert! Ein Menſchenfeind wuͤrde ich ſeyn, wenn ich ſagen wollte, daß Neran, unter dem Vorwande ſei- ner obrigkeitlichen Pflicht, Ungerechtigkeiten ausuͤb- te, die Buͤrger um ihre Nahrung braͤchte, mit dem Schweiße gedruckter Unterthanen wucherte, die Seufzer der Wittwen wider ſich reizte, und das Vermoͤgen verlaßner Muͤndel an ſich riſſe; daß dieſe noch in funfzig Jahren mit Thraͤnen ihren Kindern die Raͤubereyen des Nerans wieder erzaͤhlen, und noch im Alter ſein Andenken verfluchen wuͤrden. Alles dieſes thut Neran; es iſt wahr. Jch aber huͤte mich wohl, dem Neran dieſes vorzuhalten, denn ich mag kein Menſchenfeind ſeyn. Einen Vater des Vaterlandes, einen Prieſter der Gerechtigkeit, den großen Neran nenne ich ihn, ſo oft ich zu ihm komme; dieſes aber geſchieht alle Mittage um zwoͤlf Uhr, und ich befinde mich wohl dabey. Wie Neran iſt: So ſind noch unzaͤhlig viele andre, und ich wuͤrde von den groͤßten Pallaͤſten anfangen, und bis in die Huͤtten des geringſten Landmanns gehen koͤnnen, wenn ich noͤthig

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 2. Leipzig, 1751, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung02_1751/196>, abgerufen am 24.11.2024.