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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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singbauer, an jenen Sessel vor dem Nähtischchen, an
ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte
Zeichnung in meiner Mappe, sich fest hing, und allmäh-
lig eine Erinnerung nach der andern aufstieg und sich
blühend und grünend darumschlang. Wir sind doch
thörichte Menschen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor
dem Lächerlichwerden unsere innigsten, zartesten Gefühle!
Man schämt sich der Thräne und -- spottet; man schämt
sich des fröhlichen Lachens und -- schneidet ein lang-
weiliges Gesicht; die Tragödien des Lebens sucht man
hinter der komischen Maske zu spielen, die Komödien
hinter der tragischen; -- man ist ein Betrüger und Selbst-
quäler zugleich! -- Mit einem Kinderbaukasten verglich
Strobel diese bunten Blätter ohne Zusammenhang? Gut,
gut, -- mag es sein, -- ich werde weiter damit spielen,
weiter luftige, tolle Gebäude damit bauen, da die fern
sind, welche mir die farbigsten Steine dazu lieferten?
Ich werde von der Vergangenheit im Präsens und von
der Gegenwart im Imperfectum sprechen, ich werde
Märchen erzählen und daran glauben, Wahres zu einem
Märchen machen und zuerst -- die bekritzelten Blätter des
Meisters Strobel der Chronik anheften! Hier sind sie:
Strobeliana.

3 Uhr. Ich habe mir eine Cigarre angezündet, den
Bogen neben mich in's Fenster gelegt und beginne meine

ſingbauer, an jenen Seſſel vor dem Nähtiſchchen, an
ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte
Zeichnung in meiner Mappe, ſich feſt hing, und allmäh-
lig eine Erinnerung nach der andern aufſtieg und ſich
blühend und grünend darumſchlang. Wir ſind doch
thörichte Menſchen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor
dem Lächerlichwerden unſere innigſten, zarteſten Gefühle!
Man ſchämt ſich der Thräne und — ſpottet; man ſchämt
ſich des fröhlichen Lachens und — ſchneidet ein lang-
weiliges Geſicht; die Tragödien des Lebens ſucht man
hinter der komiſchen Maske zu ſpielen, die Komödien
hinter der tragiſchen; — man iſt ein Betrüger und Selbſt-
quäler zugleich! — Mit einem Kinderbaukaſten verglich
Strobel dieſe bunten Blätter ohne Zuſammenhang? Gut,
gut, — mag es ſein, — ich werde weiter damit ſpielen,
weiter luftige, tolle Gebäude damit bauen, da die fern
ſind, welche mir die farbigſten Steine dazu lieferten?
Ich werde von der Vergangenheit im Präſens und von
der Gegenwart im Imperfectum ſprechen, ich werde
Märchen erzählen und daran glauben, Wahres zu einem
Märchen machen und zuerſt — die bekritzelten Blätter des
Meiſters Strobel der Chronik anheften! Hier ſind ſie:
Strobeliana.

3 Uhr. Ich habe mir eine Cigarre angezündet, den
Bogen neben mich in’s Fenſter gelegt und beginne meine

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[215/0225] ſingbauer, an jenen Seſſel vor dem Nähtiſchchen, an ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte Zeichnung in meiner Mappe, ſich feſt hing, und allmäh- lig eine Erinnerung nach der andern aufſtieg und ſich blühend und grünend darumſchlang. Wir ſind doch thörichte Menſchen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor dem Lächerlichwerden unſere innigſten, zarteſten Gefühle! Man ſchämt ſich der Thräne und — ſpottet; man ſchämt ſich des fröhlichen Lachens und — ſchneidet ein lang- weiliges Geſicht; die Tragödien des Lebens ſucht man hinter der komiſchen Maske zu ſpielen, die Komödien hinter der tragiſchen; — man iſt ein Betrüger und Selbſt- quäler zugleich! — Mit einem Kinderbaukaſten verglich Strobel dieſe bunten Blätter ohne Zuſammenhang? Gut, gut, — mag es ſein, — ich werde weiter damit ſpielen, weiter luftige, tolle Gebäude damit bauen, da die fern ſind, welche mir die farbigſten Steine dazu lieferten? Ich werde von der Vergangenheit im Präſens und von der Gegenwart im Imperfectum ſprechen, ich werde Märchen erzählen und daran glauben, Wahres zu einem Märchen machen und zuerſt — die bekritzelten Blätter des Meiſters Strobel der Chronik anheften! Hier ſind ſie: Strobeliana. 3 Uhr. Ich habe mir eine Cigarre angezündet, den Bogen neben mich in’s Fenſter gelegt und beginne meine

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/225>, abgerufen am 21.11.2024.