Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu In der Natur liegt Alles ins Unendliche auseinander, Da stand ich eines schönen Nachmittags, wie ge- einen mit nervöſem Kopfweh Behafteten wahnſinnig zu In der Natur liegt Alles ins Unendliche auseinander, Da ſtand ich eines ſchönen Nachmittags, wie ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="12"/> einen mit nervöſem Kopfweh Behafteten wahnſinnig zu<lb/> machen und ihn im Irrenhauſe enden zu laſſen; mir<lb/> aber iſt ſie ſeit vielen Jahren eine unſchätzbare Bühne<lb/> des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück,<lb/> Hunger und Ueberfluß, alle Antinomien des Daſeins ſich<lb/> wiederſpiegeln.</p><lb/> <p>In der Natur liegt Alles ins Unendliche auseinander,<lb/> im Geiſt concentrirt ſich das Univerſum in einem Punkt,<lb/> docirte einſt mein alter Profeſſor der Logik. Ich ſchrieb<lb/> das damals zwar gewiſſenhaft nach in meinem Heft, be-<lb/> kümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieſes<lb/> Satzes. Damals war ich jung und Marie die niedliche<lb/> kleine Putzmacherin wohnte mir gegenüber und nähte ge-<lb/> wöhnlich am Fenſter, während ich, Kants Kritik der reinen<lb/> Vernunft vor der Naſe, die Augen — nur bei ihr hatte.<lb/> — Sehr kurzſichtig und zu arm, mir für dieſe Fenſter-<lb/> ſtudien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker<lb/> zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff was es<lb/> heißt: Alles liegt ins Unendliche auseinander. —</p><lb/> <p>Da ſtand ich eines ſchönen Nachmittags, wie ge-<lb/> wöhnlich am Fenſter, die Naſe gegen die Scheibe gedrückt<lb/> und drüben unter Blumen, in einem luſtigen hellen<lb/> Sonnenſtrahl, ſaß meine, in Wahrheit <hi rendition="#aq">ombra adorata.</hi><lb/> Was hätte ich darum gegeben zu wiſſen, ob ſie herüber-<lb/> lächele!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [12/0022]
einen mit nervöſem Kopfweh Behafteten wahnſinnig zu
machen und ihn im Irrenhauſe enden zu laſſen; mir
aber iſt ſie ſeit vielen Jahren eine unſchätzbare Bühne
des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück,
Hunger und Ueberfluß, alle Antinomien des Daſeins ſich
wiederſpiegeln.
In der Natur liegt Alles ins Unendliche auseinander,
im Geiſt concentrirt ſich das Univerſum in einem Punkt,
docirte einſt mein alter Profeſſor der Logik. Ich ſchrieb
das damals zwar gewiſſenhaft nach in meinem Heft, be-
kümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieſes
Satzes. Damals war ich jung und Marie die niedliche
kleine Putzmacherin wohnte mir gegenüber und nähte ge-
wöhnlich am Fenſter, während ich, Kants Kritik der reinen
Vernunft vor der Naſe, die Augen — nur bei ihr hatte.
— Sehr kurzſichtig und zu arm, mir für dieſe Fenſter-
ſtudien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker
zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff was es
heißt: Alles liegt ins Unendliche auseinander. —
Da ſtand ich eines ſchönen Nachmittags, wie ge-
wöhnlich am Fenſter, die Naſe gegen die Scheibe gedrückt
und drüben unter Blumen, in einem luſtigen hellen
Sonnenſtrahl, ſaß meine, in Wahrheit ombra adorata.
Was hätte ich darum gegeben zu wiſſen, ob ſie herüber-
lächele!
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