Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmern,
aber auch öderen Straßen. Hier giebt es noch die alten
Patrizierhäuser, -- die Geschlechter selbst sind freilich
meistens lange dahin -- welche nach einer Eigenthüm-
lichkeit ihrer Bauart oder sonst einem Wahrzeichen unter
irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde
des Volks fortleben. Hier sind die dunkeln verrauchten
Comptoire der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier ist
das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die
Dämmerung, die Nacht produciren hier wundersamere
Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, selt-
samere Töne als anderswo. Das Klirren und Aechzen
der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes
mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das
Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt
es passender -- man möchte sagen dem Ort angemessener,
als hier in diesen engen Gassen, zwischen diesen hohen
Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung
den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! --

Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieses nieder-
schreibe drunten in jenem gewölbten Thorwege die Dreh-
orgel beginnt; wie sie ihre klagenden an diesem Ort
wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren
und Rollen der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes
spricht zwar vernehmlich genug im Rauschen des Windes,

ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmern,
aber auch öderen Straßen. Hier giebt es noch die alten
Patrizierhäuſer, — die Geſchlechter ſelbſt ſind freilich
meiſtens lange dahin — welche nach einer Eigenthüm-
lichkeit ihrer Bauart oder ſonſt einem Wahrzeichen unter
irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde
des Volks fortleben. Hier ſind die dunkeln verrauchten
Comptoire der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier iſt
das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die
Dämmerung, die Nacht produciren hier wunderſamere
Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondſchein, ſelt-
ſamere Töne als anderswo. Das Klirren und Aechzen
der verroſteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes
mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das
Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt
es paſſender — man möchte ſagen dem Ort angemeſſener,
als hier in dieſen engen Gaſſen, zwiſchen dieſen hohen
Häuſern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorſprung
den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! —

Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieſes nieder-
ſchreibe drunten in jenem gewölbten Thorwege die Dreh-
orgel beginnt; wie ſie ihre klagenden an dieſem Ort
wahrhaftig melodiſchen Tonwogen über das dumpfe Murren
und Rollen der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes
ſpricht zwar vernehmlich genug im Rauſchen des Windes,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0020" n="10"/>
ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmern,<lb/>
aber auch öderen Straßen. Hier giebt es noch die alten<lb/>
Patrizierhäu&#x017F;er, &#x2014; die Ge&#x017F;chlechter &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ind freilich<lb/>
mei&#x017F;tens lange dahin &#x2014; welche nach einer Eigenthüm-<lb/>
lichkeit ihrer Bauart oder &#x017F;on&#x017F;t einem Wahrzeichen unter<lb/>
irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde<lb/>
des Volks fortleben. Hier &#x017F;ind die dunkeln verrauchten<lb/>
Comptoire der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier i&#x017F;t<lb/>
das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die<lb/>
Dämmerung, die Nacht produciren hier wunder&#x017F;amere<lb/>
Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mond&#x017F;chein, &#x017F;elt-<lb/>
&#x017F;amere Töne als anderswo. Das Klirren und Aechzen<lb/>
der verro&#x017F;teten Wetterfahnen, das Klappern des Windes<lb/>
mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das<lb/>
Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt<lb/>
es pa&#x017F;&#x017F;ender &#x2014; man möchte &#x017F;agen dem Ort angeme&#x017F;&#x017F;ener,<lb/>
als hier in die&#x017F;en engen Ga&#x017F;&#x017F;en, zwi&#x017F;chen die&#x017F;en hohen<lb/>
Häu&#x017F;ern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vor&#x017F;prung<lb/>
den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! &#x2014;</p><lb/>
        <p>Horch, wie in dem Augenblick, wo ich die&#x017F;es nieder-<lb/>
&#x017F;chreibe drunten in jenem gewölbten Thorwege die Dreh-<lb/>
orgel beginnt; wie &#x017F;ie ihre klagenden an die&#x017F;em Ort<lb/>
wahrhaftig melodi&#x017F;chen Tonwogen über das dumpfe Murren<lb/>
und Rollen der Arbeit hinwälzt! &#x2014; Die Stimme Gottes<lb/>
&#x017F;pricht zwar vernehmlich genug im Rau&#x017F;chen des Windes,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0020] ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmern, aber auch öderen Straßen. Hier giebt es noch die alten Patrizierhäuſer, — die Geſchlechter ſelbſt ſind freilich meiſtens lange dahin — welche nach einer Eigenthüm- lichkeit ihrer Bauart oder ſonſt einem Wahrzeichen unter irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volks fortleben. Hier ſind die dunkeln verrauchten Comptoire der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier iſt das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die Dämmerung, die Nacht produciren hier wunderſamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondſchein, ſelt- ſamere Töne als anderswo. Das Klirren und Aechzen der verroſteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es paſſender — man möchte ſagen dem Ort angemeſſener, als hier in dieſen engen Gaſſen, zwiſchen dieſen hohen Häuſern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorſprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! — Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieſes nieder- ſchreibe drunten in jenem gewölbten Thorwege die Dreh- orgel beginnt; wie ſie ihre klagenden an dieſem Ort wahrhaftig melodiſchen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes ſpricht zwar vernehmlich genug im Rauſchen des Windes,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/20
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/20>, abgerufen am 24.11.2024.