Ich nehme wieder einmal über diesen Blättern die Stirn zwischen beide Hände und wundere mich von Neuem und suche es mir zurecht zu legen, weshalb und warum in dieser Weise ich sie, nun schon durch so manche lange winterliche Nacht, mit solchen Zeichen und Bildern fülle.
Da ist mir aber heute aus Lessings litterarischem Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über seinen "Ungenannten" schreibt:
"Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem Dache wohnen wollte."
Ich glaube das ist's! -- Oder doch ähnlich so. Mein ganzes Leben lang habe ich mit diesem Velten Andres unter einem Dache wohnen müssen und er war in Herz und Hirn ein Hausgenosse nicht immer von der bequemsten Art, -- ein Stubenkamerad, der Ansprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den ganzen Seelenhausrath des soliden Erdenbürgers ver¬ schoben, daß kein Ding anscheinend mehr an der rechten Stelle stand. Ich hatte es versucht -- wer weiß wie oft! -- während er draußen sich umtrieb und ich zu Hause geblieben war, ihn auf die Gasse
Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen, weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit ſolchen Zeichen und Bildern fülle.
Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen „Ungenannten“ ſchreibt:
„Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem Dache wohnen wollte.“
Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo. Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬ ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der rechten Stelle ſtand. Ich hatte es verſucht — wer weiß wie oft! — während er draußen ſich umtrieb und ich zu Hauſe geblieben war, ihn auf die Gaſſe
<TEI><text><body><pbfacs="#f0248"n="238"/><p>Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern<lb/>
die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich<lb/>
von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen,<lb/>
weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun<lb/>ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit<lb/>ſolchen Zeichen und Bildern fülle.</p><lb/><p>Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem<lb/>
Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf<lb/>
welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen<lb/>„Ungenannten“ſchreibt:</p><lb/><p>„Ich habe ihn darum in die Welt gezogen,<lb/>
weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem<lb/>
Dache wohnen wollte.“</p><lb/><p>Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo.<lb/>
Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten<lb/>
Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er<lb/>
war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer<lb/>
von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der<lb/>
Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der<lb/>
Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen<lb/>
waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den<lb/>
ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬<lb/>ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der<lb/>
rechten Stelle ſtand. Ich hatte es verſucht — wer<lb/>
weiß wie oft! — während er draußen ſich umtrieb<lb/>
und ich zu Hauſe geblieben war, ihn auf die Gaſſe<lb/></p></body></text></TEI>
[238/0248]
Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern
die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich
von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen,
weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun
ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit
ſolchen Zeichen und Bildern fülle.
Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem
Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf
welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen
„Ungenannten“ ſchreibt:
„Ich habe ihn darum in die Welt gezogen,
weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem
Dache wohnen wollte.“
Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo.
Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten
Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er
war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer
von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der
Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der
Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen
waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den
ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬
ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der
rechten Stelle ſtand. Ich hatte es verſucht — wer
weiß wie oft! — während er draußen ſich umtrieb
und ich zu Hauſe geblieben war, ihn auf die Gaſſe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/248>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.