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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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Ich nehme wieder einmal über diesen Blättern
die Stirn zwischen beide Hände und wundere mich
von Neuem und suche es mir zurecht zu legen,
weshalb und warum in dieser Weise ich sie, nun
schon durch so manche lange winterliche Nacht, mit
solchen Zeichen und Bildern fülle.

Da ist mir aber heute aus Lessings litterarischem
Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf
welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über seinen
"Ungenannten" schreibt:

"Ich habe ihn darum in die Welt gezogen,
weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem
Dache wohnen wollte."

Ich glaube das ist's! -- Oder doch ähnlich so.
Mein ganzes Leben lang habe ich mit diesem Velten
Andres unter einem Dache wohnen müssen und er
war in Herz und Hirn ein Hausgenosse nicht immer
von der bequemsten Art, -- ein Stubenkamerad, der
Ansprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der
Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen
waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den
ganzen Seelenhausrath des soliden Erdenbürgers ver¬
schoben, daß kein Ding anscheinend mehr an der
rechten Stelle stand. Ich hatte es versucht -- wer
weiß wie oft! -- während er draußen sich umtrieb
und ich zu Hause geblieben war, ihn auf die Gasse

Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern
die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich
von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen,
weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun
ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit
ſolchen Zeichen und Bildern fülle.

Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem
Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf
welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen
„Ungenannten“ ſchreibt:

„Ich habe ihn darum in die Welt gezogen,
weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem
Dache wohnen wollte.“

Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo.
Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten
Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er
war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer
von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der
Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der
Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen
waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den
ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬
ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der
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[238/0248] Ich nehme wieder einmal über dieſen Blättern die Stirn zwiſchen beide Hände und wundere mich von Neuem und ſuche es mir zurecht zu legen, weshalb und warum in dieſer Weiſe ich ſie, nun ſchon durch ſo manche lange winterliche Nacht, mit ſolchen Zeichen und Bildern fülle. Da iſt mir aber heute aus Leſſings litterariſchem Nachlaß eine Seite unter die Augen gekommen, auf welcher der Wolfenbüttler Bibliothekar über ſeinen „Ungenannten“ ſchreibt: „Ich habe ihn darum in die Welt gezogen, weil ich mit ihm nicht länger allein unter einem Dache wohnen wollte.“ Ich glaube das iſt's! — Oder doch ähnlich ſo. Mein ganzes Leben lang habe ich mit dieſem Velten Andres unter einem Dache wohnen müſſen und er war in Herz und Hirn ein Hausgenoſſe nicht immer von der bequemſten Art, — ein Stubenkamerad, der Anſprüche machte, die mit der Lebensgewohnheit der Anderen nicht immer leicht in Einklang zu bringen waren, ein Kumpan mit Zumuthungen, die oft den ganzen Seelenhausrath des ſoliden Erdenbürgers ver¬ ſchoben, daß kein Ding anſcheinend mehr an der rechten Stelle ſtand. Ich hatte es verſucht — wer weiß wie oft! — während er draußen ſich umtrieb und ich zu Hauſe geblieben war, ihn auf die Gaſſe

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/248>, abgerufen am 22.11.2024.