das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb?
Es konnte doch keine Täuschung gewesen sein! Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an meiner Seite gesehen! Er hatte zu mir gesprochen; ich fühlte noch immer den Druck seiner Hand auf den meinigen; und -- ich hatte im Auf- und Ab¬ schreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über seine Rückkehr in die Heimath nicht zu den Akten abgegeben haben würde. Als er dann in der Dämmerung kam, fand er mich über dem Reichsstrafgesetzbuch, dem Paragraphen: Fahrlässiger Meineid, und in der kopfschüttelnden Gewißheit, daß die meisten Justizver¬ brechen hierbei begangen werden, und daß Jupiter, der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die Urtheile der hier zuständigen Richter sehr häufig mit den Zähnen zu knirschen hätte. -- Daß ich solches aber jetzt hier niederschreibe, beweist nur auch, in welche Ferne mir heute, in dieser Winternacht, während der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieselt, jener so dunkle unruhvolle Sommersonnentag, der Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an welchem Velten Andres ihm vom Hause seiner Mutter aus die letzte Ehre erwies, gerückt ist.
das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb?
Es konnte doch keine Täuſchung geweſen ſein! Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an meiner Seite geſehen! Er hatte zu mir geſprochen; ich fühlte noch immer den Druck ſeiner Hand auf den meinigen; und — ich hatte im Auf- und Ab¬ ſchreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über ſeine Rückkehr in die Heimath nicht zu den Akten abgegeben haben würde. Als er dann in der Dämmerung kam, fand er mich über dem Reichsſtrafgeſetzbuch, dem Paragraphen: Fahrläſſiger Meineid, und in der kopfſchüttelnden Gewißheit, daß die meiſten Juſtizver¬ brechen hierbei begangen werden, und daß Jupiter, der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die Urtheile der hier zuſtändigen Richter ſehr häufig mit den Zähnen zu knirſchen hätte. — Daß ich ſolches aber jetzt hier niederſchreibe, beweiſt nur auch, in welche Ferne mir heute, in dieſer Winternacht, während der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieſelt, jener ſo dunkle unruhvolle Sommerſonnentag, der Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an welchem Velten Andres ihm vom Hauſe ſeiner Mutter aus die letzte Ehre erwies, gerückt iſt.
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das nicht; ich aber hatte den ganzen Tag über Unruhe
in den Gliedern, denn ich begriff noch weniger als
meine Frau, wo Velten jetzt eigentlich blieb?
Es konnte doch keine Täuſchung geweſen ſein!
Ich hatte ihn doch plötzlich auf dem Kirchhofe an
meiner Seite geſehen! Er hatte zu mir geſprochen;
ich fühlte noch immer den Druck ſeiner Hand auf
den meinigen; und — ich hatte im Auf- und Ab¬
ſchreiten durch das Zimmer Momente, in welchen ich
nicht mehr an ihn glaubte und einen Eid über ſeine
Rückkehr in die Heimath nicht zu den Akten abgegeben
haben würde. Als er dann in der Dämmerung
kam, fand er mich über dem Reichsſtrafgeſetzbuch,
dem Paragraphen: Fahrläſſiger Meineid, und in der
kopfſchüttelnden Gewißheit, daß die meiſten Juſtizver¬
brechen hierbei begangen werden, und daß Jupiter,
der über die Schwüre der Verliebten lacht, über die
Urtheile der hier zuſtändigen Richter ſehr häufig mit
den Zähnen zu knirſchen hätte. — Daß ich ſolches
aber jetzt hier niederſchreibe, beweiſt nur auch, in
welche Ferne mir heute, in dieſer Winternacht, während
der Schnee noch immer ununterbrochen niederrieſelt,
jener ſo dunkle unruhvolle Sommerſonnentag, der
Tag, an welchem ich meinen Vater begrub und an
welchem Velten Andres ihm vom Hauſe ſeiner Mutter
aus die letzte Ehre erwies, gerückt iſt.
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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/226>, abgerufen am 24.11.2024.
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