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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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Einleitung.
Ausarbeitungen, den letztern nicht beykommen? Jst dieses dem puren
Naturell, oder zugleich der Wissenschaft zuzuschreiben? Das Naturell
wird mit angebohren; und die Wissenschaft wird durch gute Unterwei-
sung, und durch fleißiges Nachforschen erlernet: beydes aber gehöret zu
einem guten Componisten. Durch den Operstyl hat zwar der Geschmack
zu, die Wissenschaft aber abgenommen. Denn weil man geglaubet hat,
daß zu dieser Art Musik, mehr Genie und Erfindung, als Wissenschaft
der Setzkunst erfodert würde; auch weil dieselbe gemeiniglich bey den Mu-
sikliebhabern mehr Beyfall findet, als eine Kirchen- oder Jnstrumental-
Musik: so haben sich mehrentheils die jungen und selbst gewachsenen Com-
ponisten in Jtalien damit am ersten beschäftiget; um sowohl bald einen
Credit zu erlangen, als auch in kurzer Zeit vor Meister, oder, nach ih-
rer Art, Maestri zu paßiren. Es hat aber die unzeitige Bemühung nach
diesem Titel verursachet, daß die meisten Maestri niemals Scholaren ge-
wesen: indem sie anfänglich keine richtigen Grundsätze erlernet haben, und
nach erhaltenem Beyfall der Unverständigen, sich der Unterweisung nun
schämen. Deswegen ahmet einer dem andern nach, schreibt seine Arbeit
aus, oder giebt wohl gar fremde Arbeit für seine eigene aus, wie die Er-
fahrung lehret; zumal wenn dergleichen Naturalisten sich genöthiget fin-
den, ihr Glück in fremden Landen zu suchen; und die Erfindungen nicht
im Kopfe, sondern im Koffer mit sich führen. Haben sie auch allenfalls
noch die Fähigkeit etwas aus ihrem Kopfe zu erfinden, ohne sich mit frem-
den Federn zu schmücken; so wenden sie doch selten die gehörige Zeit an,
die ein so weitläuftiges Werk, als eine Oper ist, erfodert: sondern es
wird oftmals für eine besondere Geschiklichkeit gehalten, wenn einer die
Fähigkeit besitzet, in zehn oder zwölf Tagen ein ganz Singespiel hinzu-
schmieren; und nur darauf bedacht ist, daß es, wenn es auch weder
schön noch vernünftig seyn sollte, doch zum wenigsten etwas neues sey.
Es läßt sich aber sehr leicht begreifen, was in solcher Eil für gutes her-
vorgebracht werden könne. Die Gedanken müssen ja, so zu sagen, nur in
der Luft erschnappet werden, wie etwan ein Raubthier einen Vogel erha-
schet. Wo bleibt da die Ordnung, der Zusammenhang, und die Säu-
berung der Gedanken? Endlich ist es denn auch dahin gekommen, daß
gegenwärtig in Jtalien nicht mehr so viel vortreffliche Componisten anzu-
treffen sind, als vormals. Fehlet es aber an erfahrnen Componisten:
wie kann da der gute Geschmack erhalten, oder fortgepflanzet werden?
Wer da weis, was zu einer vollkommenen Oper gehöret, der wird geste-

hen
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Einleitung.
Ausarbeitungen, den letztern nicht beykommen? Jſt dieſes dem puren
Naturell, oder zugleich der Wiſſenſchaft zuzuſchreiben? Das Naturell
wird mit angebohren; und die Wiſſenſchaft wird durch gute Unterwei-
ſung, und durch fleißiges Nachforſchen erlernet: beydes aber gehoͤret zu
einem guten Componiſten. Durch den Operſtyl hat zwar der Geſchmack
zu, die Wiſſenſchaft aber abgenommen. Denn weil man geglaubet hat,
daß zu dieſer Art Muſik, mehr Genie und Erfindung, als Wiſſenſchaft
der Setzkunſt erfodert wuͤrde; auch weil dieſelbe gemeiniglich bey den Mu-
ſikliebhabern mehr Beyfall findet, als eine Kirchen- oder Jnſtrumental-
Muſik: ſo haben ſich mehrentheils die jungen und ſelbſt gewachſenen Com-
poniſten in Jtalien damit am erſten beſchaͤftiget; um ſowohl bald einen
Credit zu erlangen, als auch in kurzer Zeit vor Meiſter, oder, nach ih-
rer Art, Maeſtri zu paßiren. Es hat aber die unzeitige Bemuͤhung nach
dieſem Titel verurſachet, daß die meiſten Maeſtri niemals Scholaren ge-
weſen: indem ſie anfaͤnglich keine richtigen Grundſaͤtze erlernet haben, und
nach erhaltenem Beyfall der Unverſtaͤndigen, ſich der Unterweiſung nun
ſchaͤmen. Deswegen ahmet einer dem andern nach, ſchreibt ſeine Arbeit
aus, oder giebt wohl gar fremde Arbeit fuͤr ſeine eigene aus, wie die Er-
fahrung lehret; zumal wenn dergleichen Naturaliſten ſich genoͤthiget fin-
den, ihr Gluͤck in fremden Landen zu ſuchen; und die Erfindungen nicht
im Kopfe, ſondern im Koffer mit ſich fuͤhren. Haben ſie auch allenfalls
noch die Faͤhigkeit etwas aus ihrem Kopfe zu erfinden, ohne ſich mit frem-
den Federn zu ſchmuͤcken; ſo wenden ſie doch ſelten die gehoͤrige Zeit an,
die ein ſo weitlaͤuftiges Werk, als eine Oper iſt, erfodert: ſondern es
wird oftmals fuͤr eine beſondere Geſchiklichkeit gehalten, wenn einer die
Faͤhigkeit beſitzet, in zehn oder zwoͤlf Tagen ein ganz Singeſpiel hinzu-
ſchmieren; und nur darauf bedacht iſt, daß es, wenn es auch weder
ſchoͤn noch vernuͤnftig ſeyn ſollte, doch zum wenigſten etwas neues ſey.
Es laͤßt ſich aber ſehr leicht begreifen, was in ſolcher Eil fuͤr gutes her-
vorgebracht werden koͤnne. Die Gedanken muͤſſen ja, ſo zu ſagen, nur in
der Luft erſchnappet werden, wie etwan ein Raubthier einen Vogel erha-
ſchet. Wo bleibt da die Ordnung, der Zuſammenhang, und die Saͤu-
berung der Gedanken? Endlich iſt es denn auch dahin gekommen, daß
gegenwaͤrtig in Jtalien nicht mehr ſo viel vortreffliche Componiſten anzu-
treffen ſind, als vormals. Fehlet es aber an erfahrnen Componiſten:
wie kann da der gute Geſchmack erhalten, oder fortgepflanzet werden?
Wer da weis, was zu einer vollkommenen Oper gehoͤret, der wird geſte-

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[13/0031] Einleitung. Ausarbeitungen, den letztern nicht beykommen? Jſt dieſes dem puren Naturell, oder zugleich der Wiſſenſchaft zuzuſchreiben? Das Naturell wird mit angebohren; und die Wiſſenſchaft wird durch gute Unterwei- ſung, und durch fleißiges Nachforſchen erlernet: beydes aber gehoͤret zu einem guten Componiſten. Durch den Operſtyl hat zwar der Geſchmack zu, die Wiſſenſchaft aber abgenommen. Denn weil man geglaubet hat, daß zu dieſer Art Muſik, mehr Genie und Erfindung, als Wiſſenſchaft der Setzkunſt erfodert wuͤrde; auch weil dieſelbe gemeiniglich bey den Mu- ſikliebhabern mehr Beyfall findet, als eine Kirchen- oder Jnſtrumental- Muſik: ſo haben ſich mehrentheils die jungen und ſelbſt gewachſenen Com- poniſten in Jtalien damit am erſten beſchaͤftiget; um ſowohl bald einen Credit zu erlangen, als auch in kurzer Zeit vor Meiſter, oder, nach ih- rer Art, Maeſtri zu paßiren. Es hat aber die unzeitige Bemuͤhung nach dieſem Titel verurſachet, daß die meiſten Maeſtri niemals Scholaren ge- weſen: indem ſie anfaͤnglich keine richtigen Grundſaͤtze erlernet haben, und nach erhaltenem Beyfall der Unverſtaͤndigen, ſich der Unterweiſung nun ſchaͤmen. Deswegen ahmet einer dem andern nach, ſchreibt ſeine Arbeit aus, oder giebt wohl gar fremde Arbeit fuͤr ſeine eigene aus, wie die Er- fahrung lehret; zumal wenn dergleichen Naturaliſten ſich genoͤthiget fin- den, ihr Gluͤck in fremden Landen zu ſuchen; und die Erfindungen nicht im Kopfe, ſondern im Koffer mit ſich fuͤhren. Haben ſie auch allenfalls noch die Faͤhigkeit etwas aus ihrem Kopfe zu erfinden, ohne ſich mit frem- den Federn zu ſchmuͤcken; ſo wenden ſie doch ſelten die gehoͤrige Zeit an, die ein ſo weitlaͤuftiges Werk, als eine Oper iſt, erfodert: ſondern es wird oftmals fuͤr eine beſondere Geſchiklichkeit gehalten, wenn einer die Faͤhigkeit beſitzet, in zehn oder zwoͤlf Tagen ein ganz Singeſpiel hinzu- ſchmieren; und nur darauf bedacht iſt, daß es, wenn es auch weder ſchoͤn noch vernuͤnftig ſeyn ſollte, doch zum wenigſten etwas neues ſey. Es laͤßt ſich aber ſehr leicht begreifen, was in ſolcher Eil fuͤr gutes her- vorgebracht werden koͤnne. Die Gedanken muͤſſen ja, ſo zu ſagen, nur in der Luft erſchnappet werden, wie etwan ein Raubthier einen Vogel erha- ſchet. Wo bleibt da die Ordnung, der Zuſammenhang, und die Saͤu- berung der Gedanken? Endlich iſt es denn auch dahin gekommen, daß gegenwaͤrtig in Jtalien nicht mehr ſo viel vortreffliche Componiſten anzu- treffen ſind, als vormals. Fehlet es aber an erfahrnen Componiſten: wie kann da der gute Geſchmack erhalten, oder fortgepflanzet werden? Wer da weis, was zu einer vollkommenen Oper gehoͤret, der wird geſte- hen B 3

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/31>, abgerufen am 04.05.2024.