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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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den Unterarm zu legen und sich allmählich langsam herab-
zulassen. Eine der furchtbarsten Abseilstellen, die dem Ver-
fasser bekannt ist. befindet sich an der Breche Zsigmondy
im Grate zwischen Pic Central und Grand Pic de la Meije,
ihre Höhe dürfte etwa 30 m betragen. Der Gratabsturz zeigt 5 m
unter dem Felsrande eine kleine, glatte, steil abfallende Felsplatte,
dann fällt er wieder senkrecht ab. Der Fuss der Felswand, weil
überhängend, entzieht sich dem Blick. Der Verfasser half sich,
als er mit den Brüdern Zsigmondy diese Stelle überwand, da-
durch, dass er einen Mauerhaken in eine Spalte der Felsplatte
eintrieb, denselben mit Steinen fest verkeilte und an dem Mauer-
haken einen Seilring befestigte, durch den nun das Gletscherseil
gelegt wurde.

Derlei Kunstgriffe mit dem Seile sind immer etwas gewagt;
sie sind nur in jenen Fällen zu rechtfertigen, wo es andere Aus-
kunftsmittel nicht giebt. Wer Bergstock und Pickel gut zu hand-
haben versteht, wird das Seil nur im Nothfalle anwenden. Man hält
den Pickel nach Art eines Spazierstockes bei der Haue, und benützt
ihn als Stütze, als verlängerten Arm oder als drittes Bein, als
Tastorgan, letzteres auf Gletschern und im schneebedeckten
Terrain. Bei Traversierungen, beim Abstieg über nicht allzu
steile Gehänge, beim Abfahren über Schnee hält man ihn mit
beiden Händen; dies gilt auch vom Bergstock, dessen Handhabung,
obwohl viel mehr beschränkt, kaum weniger Uebung fordert. In
eisfreiem Kalkgebirge - wir nehmen die Dolomite ausdrücklich
aus - ist der Bergstock unbedingt vortheilhafter, und der geübte
Felssteiger kann es in der Handhabung desselben zu einer
Meisterschaft bringen, die den Uneingeweihten geradezu über-
rascht. Sprünge von 3 - 4 m Weite und 4 - 4 1/2 m Tiefe sind keine
Seltenheit. Wer sich davon überzeugen will, wende sich an die
Jäger (Wildhüter) der Salzburger und Berchtesgadener Kalkgebirge,
denn diese Männer - mit der Doppelflinte auf dem Rücken und
dem 3 m langen Bergstock in der Hand - sind es zunächst,
welche diese Kunststücke ausüben.

Beim Abwärtsklettern ist es ein grosser Vortheil, sich
stark vorgebeugt zu halten, da die Stabilität eines Körpers umso
grösser ist, je näher sein Schwerpunkt der Basis liegt. Auch
für den Anstieg gilt diese Regel, gegen die der Anfänger leicht
verstösst. Die Hauptzustände, in denen sich der menschliche
Körper im Gleichgewichte befindet, sind das Liegen, der Stütz und
der Hang. Beim Felsklettern sind alle diese Zustände - denn

L. Purtscheller.
den Unterarm zu legen und sich allmählich langsam herab-
zulassen. Eine der furchtbarsten Abseilstellen, die dem Ver-
fasser bekannt ist. befindet sich an der Brêche Zsigmondy
im Grate zwischen Pic Central und Grand Pic de la Meije,
ihre Höhe dürfte etwa 30 m betragen. Der Gratabsturz zeigt 5 m
unter dem Felsrande eine kleine, glatte, steil abfallende Felsplatte,
dann fällt er wieder senkrecht ab. Der Fuss der Felswand, weil
überhängend, entzieht sich dem Blick. Der Verfasser half sich,
als er mit den Brüdern Zsigmondy diese Stelle überwand, da-
durch, dass er einen Mauerhaken in eine Spalte der Felsplatte
eintrieb, denselben mit Steinen fest verkeilte und an dem Mauer-
haken einen Seilring befestigte, durch den nun das Gletscherseil
gelegt wurde.

Derlei Kunstgriffe mit dem Seile sind immer etwas gewagt;
sie sind nur in jenen Fällen zu rechtfertigen, wo es andere Aus-
kunftsmittel nicht giebt. Wer Bergstock und Pickel gut zu hand-
haben versteht, wird das Seil nur im Nothfalle anwenden. Man hält
den Pickel nach Art eines Spazierstockes bei der Haue, und benützt
ihn als Stütze, als verlängerten Arm oder als drittes Bein, als
Tastorgan, letzteres auf Gletschern und im schneebedeckten
Terrain. Bei Traversierungen, beim Abstieg über nicht allzu
steile Gehänge, beim Abfahren über Schnee hält man ihn mit
beiden Händen; dies gilt auch vom Bergstock, dessen Handhabung,
obwohl viel mehr beschränkt, kaum weniger Uebung fordert. In
eisfreiem Kalkgebirge – wir nehmen die Dolomite ausdrücklich
aus – ist der Bergstock unbedingt vortheilhafter, und der geübte
Felssteiger kann es in der Handhabung desselben zu einer
Meisterschaft bringen, die den Uneingeweihten geradezu über-
rascht. Sprünge von 3 – 4 m Weite und 4 – 4 ½ m Tiefe sind keine
Seltenheit. Wer sich davon überzeugen will, wende sich an die
Jäger (Wildhüter) der Salzburger und Berchtesgadener Kalkgebirge,
denn diese Männer – mit der Doppelflinte auf dem Rücken und
dem 3 m langen Bergstock in der Hand – sind es zunächst,
welche diese Kunststücke ausüben.

Beim Abwärtsklettern ist es ein grosser Vortheil, sich
stark vorgebeugt zu halten, da die Stabilität eines Körpers umso
grösser ist, je näher sein Schwerpunkt der Basis liegt. Auch
für den Anstieg gilt diese Regel, gegen die der Anfänger leicht
verstösst. Die Hauptzustände, in denen sich der menschliche
Körper im Gleichgewichte befindet, sind das Liegen, der Stütz und
der Hang. Beim Felsklettern sind alle diese Zustände – denn

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[154/0060] L. Purtscheller. den Unterarm zu legen und sich allmählich langsam herab- zulassen. Eine der furchtbarsten Abseilstellen, die dem Ver- fasser bekannt ist. befindet sich an der Brêche Zsigmondy im Grate zwischen Pic Central und Grand Pic de la Meije, ihre Höhe dürfte etwa 30 m betragen. Der Gratabsturz zeigt 5 m unter dem Felsrande eine kleine, glatte, steil abfallende Felsplatte, dann fällt er wieder senkrecht ab. Der Fuss der Felswand, weil überhängend, entzieht sich dem Blick. Der Verfasser half sich, als er mit den Brüdern Zsigmondy diese Stelle überwand, da- durch, dass er einen Mauerhaken in eine Spalte der Felsplatte eintrieb, denselben mit Steinen fest verkeilte und an dem Mauer- haken einen Seilring befestigte, durch den nun das Gletscherseil gelegt wurde. Derlei Kunstgriffe mit dem Seile sind immer etwas gewagt; sie sind nur in jenen Fällen zu rechtfertigen, wo es andere Aus- kunftsmittel nicht giebt. Wer Bergstock und Pickel gut zu hand- haben versteht, wird das Seil nur im Nothfalle anwenden. Man hält den Pickel nach Art eines Spazierstockes bei der Haue, und benützt ihn als Stütze, als verlängerten Arm oder als drittes Bein, als Tastorgan, letzteres auf Gletschern und im schneebedeckten Terrain. Bei Traversierungen, beim Abstieg über nicht allzu steile Gehänge, beim Abfahren über Schnee hält man ihn mit beiden Händen; dies gilt auch vom Bergstock, dessen Handhabung, obwohl viel mehr beschränkt, kaum weniger Uebung fordert. In eisfreiem Kalkgebirge – wir nehmen die Dolomite ausdrücklich aus – ist der Bergstock unbedingt vortheilhafter, und der geübte Felssteiger kann es in der Handhabung desselben zu einer Meisterschaft bringen, die den Uneingeweihten geradezu über- rascht. Sprünge von 3 – 4 m Weite und 4 – 4 ½ m Tiefe sind keine Seltenheit. Wer sich davon überzeugen will, wende sich an die Jäger (Wildhüter) der Salzburger und Berchtesgadener Kalkgebirge, denn diese Männer – mit der Doppelflinte auf dem Rücken und dem 3 m langen Bergstock in der Hand – sind es zunächst, welche diese Kunststücke ausüben. Beim Abwärtsklettern ist es ein grosser Vortheil, sich stark vorgebeugt zu halten, da die Stabilität eines Körpers umso grösser ist, je näher sein Schwerpunkt der Basis liegt. Auch für den Anstieg gilt diese Regel, gegen die der Anfänger leicht verstösst. Die Hauptzustände, in denen sich der menschliche Körper im Gleichgewichte befindet, sind das Liegen, der Stütz und der Hang. Beim Felsklettern sind alle diese Zustände – denn

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/60>, abgerufen am 23.11.2024.