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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
so gilt es, das Terrain vorsichtig auszuwählen. Der Bergsteiger
hat - vorausgesetzt, dass ihm die Wahl freisteht - zu über-
legen, ob er die zu erstrebende Höhe oder Tiefe mittelst Stufen
über einen Eis- oder Schneehang, durch Erkletterung einer Fels-
wand oder über eine schnee- oder eiserfüllte Rinne gewinnen
will, auch muss derselbe vor allem seine persönliche Leistungs-
fähigkeit berücksichtigen. Dies mit möglichster Genauigkeit und
Sicherheit zu bestimmen, gehört zu den schwierigsten, aber
auch zu den schönsten Triumphen der modernen Bergtechnik,
und wer sich zu einem tüchtigen Touristen ausbilden will, muss
in dieser Sache Fertigkeit besitzen. Bergsteiger, die ausschliesslich
mit Führern gehen, kommen selten in die Lage, sich über diese
Dinge ein selbständiges Urtheil zu bilden. Wer aber in den
Bergen reichere Erfahrungen gemacht hat, wird wissen, dass
die Siege, die das Auge davonträgt, meist eine viel grössere
Selbstbefriedigung hervorrufen, als die Erfolge der blossen Kraft
und des ungestümen Darauflosstürmens. Ist es nicht ärgerlich,
wenn wir nach Ueberwindung einer schwierigen Kletterstelle ent-
decken, dass wir dieselbe bei einiger Umsicht hätten vermeiden
können, oder dass sich die steingefährliche Rinne durch eine seit-
liche Ausbiegung umgehen liesse? Ein solcher Stürmer wird
zwar in der Ueberwindung von Schwierigkeiten Ausserordent-
liches leisten, er trägt vielleicht alle Bedingungen zu einem
tüchtigen, schneidigen Hochtouristen in sich, allein er wird niemals
einen guten Führer ersetzen können.

Dasselbe, was von dem Touristen gesagt wird, gilt weit
mehr noch von dem Führer. Der Führer soll über das grösste
Maass von "Bergkenntniss", oder wie man es auch nennt "Berg-
instinkt" verfügen, er soll bei der Auswahl des Terrains auch die
Leistungsfähigkeit des Touristen berücksichtigen, er soll im Stande
sein, sich nicht nur auf seinen Heimathsbergen, sondern auch in
fremden Alpengebieten zurechtzufinden.

Neben dem Fusse spielt beim Bergsteigen die Hand eine
sehr wichtige Rolle. Wenn wir den Fuss als Stütz- und Tast-
organ gebrauchen, so kommt durch die Verwendung der Hände
noch ein drittes, sehr wesentliches Förderungsmittel hinzu, die
Hang- oder Zugkraft, durch welche es uns, den Gesetzen der
Schwere zum Trotze, möglich ist, selbst über senkrechte oder
überhängende Terrainhindernisse hinauf- und hinabzugelangen.
Wie die Erfahrung lehrt, hängt die Erkletterung einer Felswand,
eines Kamines oder eines Felsgrates weniger von deren Neigungs-

Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
so gilt es, das Terrain vorsichtig auszuwählen. Der Bergsteiger
hat – vorausgesetzt, dass ihm die Wahl freisteht - zu über-
legen, ob er die zu erstrebende Höhe oder Tiefe mittelst Stufen
über einen Eis- oder Schneehang, durch Erkletterung einer Fels-
wand oder über eine schnee- oder eiserfüllte Rinne gewinnen
will, auch muss derselbe vor allem seine persönliche Leistungs-
fähigkeit berücksichtigen. Dies mit möglichster Genauigkeit und
Sicherheit zu bestimmen, gehört zu den schwierigsten, aber
auch zu den schönsten Triumphen der modernen Bergtechnik,
und wer sich zu einem tüchtigen Touristen ausbilden will, muss
in dieser Sache Fertigkeit besitzen. Bergsteiger, die ausschliesslich
mit Führern gehen, kommen selten in die Lage, sich über diese
Dinge ein selbständiges Urtheil zu bilden. Wer aber in den
Bergen reichere Erfahrungen gemacht hat, wird wissen, dass
die Siege, die das Auge davonträgt, meist eine viel grössere
Selbstbefriedigung hervorrufen, als die Erfolge der blossen Kraft
und des ungestümen Darauflosstürmens. Ist es nicht ärgerlich,
wenn wir nach Ueberwindung einer schwierigen Kletterstelle ent-
decken, dass wir dieselbe bei einiger Umsicht hätten vermeiden
können, oder dass sich die steingefährliche Rinne durch eine seit-
liche Ausbiegung umgehen liesse? Ein solcher Stürmer wird
zwar in der Ueberwindung von Schwierigkeiten Ausserordent-
liches leisten, er trägt vielleicht alle Bedingungen zu einem
tüchtigen, schneidigen Hochtouristen in sich, allein er wird niemals
einen guten Führer ersetzen können.

Dasselbe, was von dem Touristen gesagt wird, gilt weit
mehr noch von dem Führer. Der Führer soll über das grösste
Maass von „Bergkenntniss“, oder wie man es auch nennt „Berg-
instinkt“ verfügen, er soll bei der Auswahl des Terrains auch die
Leistungsfähigkeit des Touristen berücksichtigen, er soll im Stande
sein, sich nicht nur auf seinen Heimathsbergen, sondern auch in
fremden Alpengebieten zurechtzufinden.

Neben dem Fusse spielt beim Bergsteigen die Hand eine
sehr wichtige Rolle. Wenn wir den Fuss als Stütz- und Tast-
organ gebrauchen, so kommt durch die Verwendung der Hände
noch ein drittes, sehr wesentliches Förderungsmittel hinzu, die
Hang- oder Zugkraft, durch welche es uns, den Gesetzen der
Schwere zum Trotze, möglich ist, selbst über senkrechte oder
überhängende Terrainhindernisse hinauf- und hinabzugelangen.
Wie die Erfahrung lehrt, hängt die Erkletterung einer Felswand,
eines Kamines oder eines Felsgrates weniger von deren Neigungs-

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[137/0043] Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus. so gilt es, das Terrain vorsichtig auszuwählen. Der Bergsteiger hat – vorausgesetzt, dass ihm die Wahl freisteht - zu über- legen, ob er die zu erstrebende Höhe oder Tiefe mittelst Stufen über einen Eis- oder Schneehang, durch Erkletterung einer Fels- wand oder über eine schnee- oder eiserfüllte Rinne gewinnen will, auch muss derselbe vor allem seine persönliche Leistungs- fähigkeit berücksichtigen. Dies mit möglichster Genauigkeit und Sicherheit zu bestimmen, gehört zu den schwierigsten, aber auch zu den schönsten Triumphen der modernen Bergtechnik, und wer sich zu einem tüchtigen Touristen ausbilden will, muss in dieser Sache Fertigkeit besitzen. Bergsteiger, die ausschliesslich mit Führern gehen, kommen selten in die Lage, sich über diese Dinge ein selbständiges Urtheil zu bilden. Wer aber in den Bergen reichere Erfahrungen gemacht hat, wird wissen, dass die Siege, die das Auge davonträgt, meist eine viel grössere Selbstbefriedigung hervorrufen, als die Erfolge der blossen Kraft und des ungestümen Darauflosstürmens. Ist es nicht ärgerlich, wenn wir nach Ueberwindung einer schwierigen Kletterstelle ent- decken, dass wir dieselbe bei einiger Umsicht hätten vermeiden können, oder dass sich die steingefährliche Rinne durch eine seit- liche Ausbiegung umgehen liesse? Ein solcher Stürmer wird zwar in der Ueberwindung von Schwierigkeiten Ausserordent- liches leisten, er trägt vielleicht alle Bedingungen zu einem tüchtigen, schneidigen Hochtouristen in sich, allein er wird niemals einen guten Führer ersetzen können. Dasselbe, was von dem Touristen gesagt wird, gilt weit mehr noch von dem Führer. Der Führer soll über das grösste Maass von „Bergkenntniss“, oder wie man es auch nennt „Berg- instinkt“ verfügen, er soll bei der Auswahl des Terrains auch die Leistungsfähigkeit des Touristen berücksichtigen, er soll im Stande sein, sich nicht nur auf seinen Heimathsbergen, sondern auch in fremden Alpengebieten zurechtzufinden. Neben dem Fusse spielt beim Bergsteigen die Hand eine sehr wichtige Rolle. Wenn wir den Fuss als Stütz- und Tast- organ gebrauchen, so kommt durch die Verwendung der Hände noch ein drittes, sehr wesentliches Förderungsmittel hinzu, die Hang- oder Zugkraft, durch welche es uns, den Gesetzen der Schwere zum Trotze, möglich ist, selbst über senkrechte oder überhängende Terrainhindernisse hinauf- und hinabzugelangen. Wie die Erfahrung lehrt, hängt die Erkletterung einer Felswand, eines Kamines oder eines Felsgrates weniger von deren Neigungs-

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/43>, abgerufen am 24.04.2024.