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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
ihren allgemeinen Zügen erfasst, so gilt es, ihre charakteristischen
Merkmale aufzufinden, die zur Feststellung einer Route dienen.
Je mehr Einzelheiten vorhanden sind, desto schwieriger ist diese
Aufgabe, aber auch der gänzliche Mangel an Details würde nach-
theilig sein. Man orientiert sich daher auf coupiertem Terrain,
wo Wälder, Hügel, Bergfüsse den Ausblick versperren, weniger
gut als auf einer freien Fläche, in der Felsregion schwieriger als
im Firngebiete. Bei einer Wanderung über die ausgedehnten
Hochflächen der grossen Kalkstöcke erstaunt das Auge über die
Unzahl von Nadeln, Zacken, Höcker, Rippen und Bänke, die uns ent-
gegentreten und die oft das Endziel bis zum letzten Augenblicke
verhüllen. Tritt nun Nebel ein, der grösste Feind der Bergsteiger,
so kann selbst dem Kundigen Gefahr drohen. In solchen Fällen
ist auch die Magnetnadel völlig werthlos, auf die sich der Theo-
retiker so gerne stützt. In einem Terrain, das vielleicht zu acht
Zehntel Theilen dem menschlichen Fusse unzugänglich ist, wo
Abstürze und Wände das Fortkommen hemmen, in einem Terrain,
wo es darauf ankommt, eine kleine Scharte, einen Kamin, ein
Grasband sicher zu erreichen, um in eine tiefere Region absteigen
zu können, da ist uns mit einer allgemeinen Richtung, wie sie der
Kompass giebt, nicht gedient.

Noch auf einen anderen Punkt hat der Bergsteiger bei Fest-
stellung einer Route Rücksicht zu nehmen: auf die Täuschungen
des Auges und die Veränderungen durch die Perspektive. Ein
Felshang erscheint uns viel stärker geneigt, wenn wir ihn von
vorne und nicht auch von der Seite betrachten, die oberen Partieen
eines Berges zeigen sich dem Auge kürzer als sie es in Wirk-
lichkeit sind, eine breite, horizontale Schneeinsel schrumpft in der
Ferne zu einem schmalen, weissen Bande zusammen; aber auch
näher liegende Eis- und Firnflächen werden nicht selten unter-
schätzt, indem man sie für kleiner hält als ihre wirkliche Aus-
dehnung beträgt. Hat der Bergsteiger aus der Ferne eine Route
entworfen, und sich gewisse charakteristische Merkpunkte seinem
Gedächtnisse eingeprägt, so wird er staunen, welche Veränderungen
das betreffende Objekt in der Nähe erleidet. Der schlanke
Felsthurm verwandelt sich in einen breiten Rücken, der grüne
Fleck zu einer ausgedehnten Alpwiese, und eine kaum sichtbare
dunkle Wellenlinie wird zu einem unüberschreitbaren Bergschrund.
Das sind Täuschungen, die dem Anfänger leichter begegnen, als
dem alten, erprobten Praktiker, der über die Höhe, Entfernung
und Grössenverhältnisse dieser Objekte im Vorhinein klar ist.


Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
ihren allgemeinen Zügen erfasst, so gilt es, ihre charakteristischen
Merkmale aufzufinden, die zur Feststellung einer Route dienen.
Je mehr Einzelheiten vorhanden sind, desto schwieriger ist diese
Aufgabe, aber auch der gänzliche Mangel an Details würde nach-
theilig sein. Man orientiert sich daher auf coupiertem Terrain,
wo Wälder, Hügel, Bergfüsse den Ausblick versperren, weniger
gut als auf einer freien Fläche, in der Felsregion schwieriger als
im Firngebiete. Bei einer Wanderung über die ausgedehnten
Hochflächen der grossen Kalkstöcke erstaunt das Auge über die
Unzahl von Nadeln, Zacken, Höcker, Rippen und Bänke, die uns ent-
gegentreten und die oft das Endziel bis zum letzten Augenblicke
verhüllen. Tritt nun Nebel ein, der grösste Feind der Bergsteiger,
so kann selbst dem Kundigen Gefahr drohen. In solchen Fällen
ist auch die Magnetnadel völlig werthlos, auf die sich der Theo-
retiker so gerne stützt. In einem Terrain, das vielleicht zu acht
Zehntel Theilen dem menschlichen Fusse unzugänglich ist, wo
Abstürze und Wände das Fortkommen hemmen, in einem Terrain,
wo es darauf ankommt, eine kleine Scharte, einen Kamin, ein
Grasband sicher zu erreichen, um in eine tiefere Region absteigen
zu können, da ist uns mit einer allgemeinen Richtung, wie sie der
Kompass giebt, nicht gedient.

Noch auf einen anderen Punkt hat der Bergsteiger bei Fest-
stellung einer Route Rücksicht zu nehmen: auf die Täuschungen
des Auges und die Veränderungen durch die Perspektive. Ein
Felshang erscheint uns viel stärker geneigt, wenn wir ihn von
vorne und nicht auch von der Seite betrachten, die oberen Partieen
eines Berges zeigen sich dem Auge kürzer als sie es in Wirk-
lichkeit sind, eine breite, horizontale Schneeinsel schrumpft in der
Ferne zu einem schmalen, weissen Bande zusammen; aber auch
näher liegende Eis- und Firnflächen werden nicht selten unter-
schätzt, indem man sie für kleiner hält als ihre wirkliche Aus-
dehnung beträgt. Hat der Bergsteiger aus der Ferne eine Route
entworfen, und sich gewisse charakteristische Merkpunkte seinem
Gedächtnisse eingeprägt, so wird er staunen, welche Veränderungen
das betreffende Objekt in der Nähe erleidet. Der schlanke
Felsthurm verwandelt sich in einen breiten Rücken, der grüne
Fleck zu einer ausgedehnten Alpwiese, und eine kaum sichtbare
dunkle Wellenlinie wird zu einem unüberschreitbaren Bergschrund.
Das sind Täuschungen, die dem Anfänger leichter begegnen, als
dem alten, erprobten Praktiker, der über die Höhe, Entfernung
und Grössenverhältnisse dieser Objekte im Vorhinein klar ist.


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[125/0031] Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus. ihren allgemeinen Zügen erfasst, so gilt es, ihre charakteristischen Merkmale aufzufinden, die zur Feststellung einer Route dienen. Je mehr Einzelheiten vorhanden sind, desto schwieriger ist diese Aufgabe, aber auch der gänzliche Mangel an Details würde nach- theilig sein. Man orientiert sich daher auf coupiertem Terrain, wo Wälder, Hügel, Bergfüsse den Ausblick versperren, weniger gut als auf einer freien Fläche, in der Felsregion schwieriger als im Firngebiete. Bei einer Wanderung über die ausgedehnten Hochflächen der grossen Kalkstöcke erstaunt das Auge über die Unzahl von Nadeln, Zacken, Höcker, Rippen und Bänke, die uns ent- gegentreten und die oft das Endziel bis zum letzten Augenblicke verhüllen. Tritt nun Nebel ein, der grösste Feind der Bergsteiger, so kann selbst dem Kundigen Gefahr drohen. In solchen Fällen ist auch die Magnetnadel völlig werthlos, auf die sich der Theo- retiker so gerne stützt. In einem Terrain, das vielleicht zu acht Zehntel Theilen dem menschlichen Fusse unzugänglich ist, wo Abstürze und Wände das Fortkommen hemmen, in einem Terrain, wo es darauf ankommt, eine kleine Scharte, einen Kamin, ein Grasband sicher zu erreichen, um in eine tiefere Region absteigen zu können, da ist uns mit einer allgemeinen Richtung, wie sie der Kompass giebt, nicht gedient. Noch auf einen anderen Punkt hat der Bergsteiger bei Fest- stellung einer Route Rücksicht zu nehmen: auf die Täuschungen des Auges und die Veränderungen durch die Perspektive. Ein Felshang erscheint uns viel stärker geneigt, wenn wir ihn von vorne und nicht auch von der Seite betrachten, die oberen Partieen eines Berges zeigen sich dem Auge kürzer als sie es in Wirk- lichkeit sind, eine breite, horizontale Schneeinsel schrumpft in der Ferne zu einem schmalen, weissen Bande zusammen; aber auch näher liegende Eis- und Firnflächen werden nicht selten unter- schätzt, indem man sie für kleiner hält als ihre wirkliche Aus- dehnung beträgt. Hat der Bergsteiger aus der Ferne eine Route entworfen, und sich gewisse charakteristische Merkpunkte seinem Gedächtnisse eingeprägt, so wird er staunen, welche Veränderungen das betreffende Objekt in der Nähe erleidet. Der schlanke Felsthurm verwandelt sich in einen breiten Rücken, der grüne Fleck zu einer ausgedehnten Alpwiese, und eine kaum sichtbare dunkle Wellenlinie wird zu einem unüberschreitbaren Bergschrund. Das sind Täuschungen, die dem Anfänger leichter begegnen, als dem alten, erprobten Praktiker, der über die Höhe, Entfernung und Grössenverhältnisse dieser Objekte im Vorhinein klar ist.

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/31>, abgerufen am 16.04.2024.