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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831.

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Es gibt in dem unermeßlichen London so viel
terra incognita, daß man, auch nur vom Zufall ge-
führt, stets etwas Neues und Interessantes darin
antrifft. So kam ich diesen Morgen nach Linkoln
Inn fields, einem herrlichen Square, wohl eine deut-
sche Meile von meiner Wohnung entfernt, mit schö-
nen Gebäuden, hohen Bäumen, und dem wohlun-
terhaltendsten Rasenplatz versehen. Der ansehnlichste
Palast enthält das Collegium der Wundärzte, mit
einem sehr interessanten Museum. Einer der Herren
zeigte mir die Anstalt mit vieler Gefälligkeit.

Das Erste, was meine Aufmerksamkeit in An-
spruch nahm, war eine allerliebste kleine Seejungfer,
die vor einigen Jahren in der Stadt für Geld ge-
zeigt, und dann für tausend Pfd. Sterl. verkauft
wurde, worauf man erst entdeckte, daß sie nur ein
chinesisches betrügliches Kunstprodukt sey, aus einem
kleinen Orang Outang und einem Lachs auf das
künstlichste verfertigt. Die wirkliche Existenz solcher
Geschöpfe bleibt also nach wie vor ein Problem.

Daneben stand ein veritabler großer Orang Ou-
tang, der lange hier lebte, und sogar mehrere häus-
liche Dienste im Hause verrichtete. Herr Clist, so hieß
mein Führer, versicherte, daß er diese Affenart für
ein eigenes Geschlecht halten müsse, das dem Men-
schen näher stehe als dem Affen. Er habe das er-
wähnte Individuum lange aufmerksam beobachtet,
und die sichersten Anzeichen von Nachdenken und Ue-
berlegung bei ihm gefunden, die offenbar über den
bloßen Instinkt hinausgingen. So habe z. B. Mr.


Es gibt in dem unermeßlichen London ſo viel
terra incognita, daß man, auch nur vom Zufall ge-
führt, ſtets etwas Neues und Intereſſantes darin
antrifft. So kam ich dieſen Morgen nach Linkoln
Inn fields, einem herrlichen Square, wohl eine deut-
ſche Meile von meiner Wohnung entfernt, mit ſchö-
nen Gebäuden, hohen Bäumen, und dem wohlun-
terhaltendſten Raſenplatz verſehen. Der anſehnlichſte
Palaſt enthält das Collegium der Wundärzte, mit
einem ſehr intereſſanten Muſeum. Einer der Herren
zeigte mir die Anſtalt mit vieler Gefälligkeit.

Das Erſte, was meine Aufmerkſamkeit in An-
ſpruch nahm, war eine allerliebſte kleine Seejungfer,
die vor einigen Jahren in der Stadt für Geld ge-
zeigt, und dann für tauſend Pfd. Sterl. verkauft
wurde, worauf man erſt entdeckte, daß ſie nur ein
chineſiſches betrügliches Kunſtprodukt ſey, aus einem
kleinen Orang Outang und einem Lachs auf das
künſtlichſte verfertigt. Die wirkliche Exiſtenz ſolcher
Geſchöpfe bleibt alſo nach wie vor ein Problem.

Daneben ſtand ein veritabler großer Orang Ou-
tang, der lange hier lebte, und ſogar mehrere häus-
liche Dienſte im Hauſe verrichtete. Herr Cliſt, ſo hieß
mein Führer, verſicherte, daß er dieſe Affenart für
ein eigenes Geſchlecht halten müſſe, das dem Men-
ſchen näher ſtehe als dem Affen. Er habe das er-
wähnte Individuum lange aufmerkſam beobachtet,
und die ſicherſten Anzeichen von Nachdenken und Ue-
berlegung bei ihm gefunden, die offenbar über den
bloßen Inſtinkt hinausgingen. So habe z. B. Mr.

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[138/0154] Den 21ſten. Es gibt in dem unermeßlichen London ſo viel terra incognita, daß man, auch nur vom Zufall ge- führt, ſtets etwas Neues und Intereſſantes darin antrifft. So kam ich dieſen Morgen nach Linkoln Inn fields, einem herrlichen Square, wohl eine deut- ſche Meile von meiner Wohnung entfernt, mit ſchö- nen Gebäuden, hohen Bäumen, und dem wohlun- terhaltendſten Raſenplatz verſehen. Der anſehnlichſte Palaſt enthält das Collegium der Wundärzte, mit einem ſehr intereſſanten Muſeum. Einer der Herren zeigte mir die Anſtalt mit vieler Gefälligkeit. Das Erſte, was meine Aufmerkſamkeit in An- ſpruch nahm, war eine allerliebſte kleine Seejungfer, die vor einigen Jahren in der Stadt für Geld ge- zeigt, und dann für tauſend Pfd. Sterl. verkauft wurde, worauf man erſt entdeckte, daß ſie nur ein chineſiſches betrügliches Kunſtprodukt ſey, aus einem kleinen Orang Outang und einem Lachs auf das künſtlichſte verfertigt. Die wirkliche Exiſtenz ſolcher Geſchöpfe bleibt alſo nach wie vor ein Problem. Daneben ſtand ein veritabler großer Orang Ou- tang, der lange hier lebte, und ſogar mehrere häus- liche Dienſte im Hauſe verrichtete. Herr Cliſt, ſo hieß mein Führer, verſicherte, daß er dieſe Affenart für ein eigenes Geſchlecht halten müſſe, das dem Men- ſchen näher ſtehe als dem Affen. Er habe das er- wähnte Individuum lange aufmerkſam beobachtet, und die ſicherſten Anzeichen von Nachdenken und Ue- berlegung bei ihm gefunden, die offenbar über den bloßen Inſtinkt hinausgingen. So habe z. B. Mr.

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/154>, abgerufen am 24.11.2024.