haften Streich. Nachdem am Morgen (ich glaube erst zum zweitenmal seit wir London verlassen) die Sonne geschienen hatte, und wir schon über unser Glück triumphirten, fiel plötzlich ein solcher Nebel, daß wir den ganzen übrigen Tag nie weiter als kaum 100 Schritte vor uns, manchmal aber kaum zehne weit sehen konnten. Im Schloß fanden wir eine bedeutende Menge Gemälde, besonders schöne Portraits, von denen uns aber kein Mensch sagen konnte, wen sie vorstellten. Etwas Neues in Hinsicht auf unsere Kunst lernten wir nicht, doch sahen wir etwas an- deres Neues. Am Jägerhause nämlich waren, in Ermanglung wirklichen Raubzenges, einstweilen sechs Dutzend Ratzen sehr zierlich, mit ausgebreiteten Schwänzen und Beinen, angenagelt.
Der dritte Park in der Reyhe war Blandford- park, dem Lord Churchill gehörig, und sehr unbe- deutend, im Hause aber fanden wir einige herrliche Kunstwerke. Zwei Gemälde besonders beneidete ich dem Besitzer. Das erste stellt ein nacktes, liegendes, reizendes Weib vor, die durch die Finger ihrer Hand schalkhaft lächelt; gewiß fälschlich auf Michel Angelo's Namen getauft. Es ist allerdings von kühner Zeich- nung, aber ausserdem auch von einer Wahrheit und Elasticität des Fleisches, einer Titianischen Färbung und einer Lieblichkeit des Ausdrucks, die keinen Mi- chel Angelo verrathen, wenn es auch vielleicht unge- gründet ist, daß, wie Manche wollen, gar keine Oehl- Gemälde von diesem Meister existiren.
haften Streich. Nachdem am Morgen (ich glaube erſt zum zweitenmal ſeit wir London verlaſſen) die Sonne geſchienen hatte, und wir ſchon über unſer Glück triumphirten, fiel plötzlich ein ſolcher Nebel, daß wir den ganzen übrigen Tag nie weiter als kaum 100 Schritte vor uns, manchmal aber kaum zehne weit ſehen konnten. Im Schloß fanden wir eine bedeutende Menge Gemälde, beſonders ſchöne Portraits, von denen uns aber kein Menſch ſagen konnte, wen ſie vorſtellten. Etwas Neues in Hinſicht auf unſere Kunſt lernten wir nicht, doch ſahen wir etwas an- deres Neues. Am Jägerhauſe nämlich waren, in Ermanglung wirklichen Raubzenges, einſtweilen ſechs Dutzend Ratzen ſehr zierlich, mit ausgebreiteten Schwänzen und Beinen, angenagelt.
Der dritte Park in der Reyhe war Blandford- park, dem Lord Churchill gehörig, und ſehr unbe- deutend, im Hauſe aber fanden wir einige herrliche Kunſtwerke. Zwei Gemälde beſonders beneidete ich dem Beſitzer. Das erſte ſtellt ein nacktes, liegendes, reizendes Weib vor, die durch die Finger ihrer Hand ſchalkhaft lächelt; gewiß fälſchlich auf Michel Angelo’s Namen getauft. Es iſt allerdings von kühner Zeich- nung, aber auſſerdem auch von einer Wahrheit und Elaſticität des Fleiſches, einer Titianiſchen Färbung und einer Lieblichkeit des Ausdrucks, die keinen Mi- chel Angelo verrathen, wenn es auch vielleicht unge- gründet iſt, daß, wie Manche wollen, gar keine Oehl- Gemälde von dieſem Meiſter exiſtiren.
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haften Streich. Nachdem am Morgen (ich glaube erſt
zum zweitenmal ſeit wir London verlaſſen) die Sonne
geſchienen hatte, und wir ſchon über unſer Glück
triumphirten, fiel plötzlich ein ſolcher Nebel, daß wir
den ganzen übrigen Tag nie weiter als kaum 100
Schritte vor uns, manchmal aber kaum zehne weit
ſehen konnten. Im Schloß fanden wir eine bedeutende
Menge Gemälde, beſonders ſchöne Portraits, von
denen uns aber kein Menſch ſagen konnte, wen ſie
vorſtellten. Etwas Neues in Hinſicht auf unſere
Kunſt lernten wir nicht, doch ſahen wir etwas an-
deres Neues. Am Jägerhauſe nämlich waren, in
Ermanglung wirklichen Raubzenges, einſtweilen ſechs
Dutzend Ratzen ſehr zierlich, mit ausgebreiteten
Schwänzen und Beinen, angenagelt.
Der dritte Park in der Reyhe war Blandford-
park, dem Lord Churchill gehörig, und ſehr unbe-
deutend, im Hauſe aber fanden wir einige herrliche
Kunſtwerke. Zwei Gemälde beſonders beneidete ich
dem Beſitzer. Das erſte ſtellt ein nacktes, liegendes,
reizendes Weib vor, die durch die Finger ihrer Hand
ſchalkhaft lächelt; gewiß fälſchlich auf Michel Angelo’s
Namen getauft. Es iſt allerdings von kühner Zeich-
nung, aber auſſerdem auch von einer Wahrheit und
Elaſticität des Fleiſches, einer Titianiſchen Färbung
und einer Lieblichkeit des Ausdrucks, die keinen Mi-
chel Angelo verrathen, wenn es auch vielleicht unge-
gründet iſt, daß, wie Manche wollen, gar keine Oehl-
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/315>, abgerufen am 22.11.2024.
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