Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

eine alte englische Uebersetzung von Werther's Leiden.
Du weißt wie hoch und innig ich unsern Dichter-
fürsten verehre, und wirst mir es daher kaum glau-
ben wollen, wenn ich Dir sage: daß ich dieses be-
rühmte Buch nie gelesen. -- Der Grund möchte
auch Vielen sehr kindisch vorkommen. Als ich es
nämlich zuerst in die Hände bekam, erweckte mir die
Stelle, gleich im Anfang, wo Charlotte dem Buben
"die Rotznase wischt" einen solchen Eckel, daß ich
nicht weiter lesen konnte, und dieser unangenehme
Eindruck blieb mir immer gegenwärtig. Diesmal
machte ich mich jedoch ernstlich an die Lectüre, und
fand es dabei seltsam, Werther zum erstenmal, in
fremder Sprache, mitten in den wüstesten Gebürgen
von Irland zu lesen. Ich konnte aber auch hier,
aufrichtig gestanden, den veralteten Leiden keinen
rechten Geschmack mehr abgewinnen -- das viele
Butterbrod, die kleinstädtischen, nicht mehr üblichen
Sitten und selbst die, (gleich den zu Gassenhauern
herabgesunknen schönen Mozartschen Melodieen) jetzt
auch Gemeinplätze gewordnen Ideen, die damals neu
waren -- endlich die unwillkührliche Erinnerung an
Potiers köstliche -- Parodie -- es war mir nicht
möglich in die rechte Communionsstimmung, wie
Fr. v. Frömmel sagt, hinein zu kommen. Aber so
viel habe ich, Scherz bei Seite, wenigstens einge-
sehn, daß das Buch einst furore machen mußte --
denn es ist eine ächt deutsche Stimmung, an der
Werther untergeht, und deutsche Gemüthlichkeit fing
damals eben an, sich in dem zu materiell gewordnen

eine alte engliſche Ueberſetzung von Werther’s Leiden.
Du weißt wie hoch und innig ich unſern Dichter-
fürſten verehre, und wirſt mir es daher kaum glau-
ben wollen, wenn ich Dir ſage: daß ich dieſes be-
rühmte Buch nie geleſen. — Der Grund möchte
auch Vielen ſehr kindiſch vorkommen. Als ich es
nämlich zuerſt in die Hände bekam, erweckte mir die
Stelle, gleich im Anfang, wo Charlotte dem Buben
„die Rotznaſe wiſcht“ einen ſolchen Eckel, daß ich
nicht weiter leſen konnte, und dieſer unangenehme
Eindruck blieb mir immer gegenwärtig. Diesmal
machte ich mich jedoch ernſtlich an die Lectüre, und
fand es dabei ſeltſam, Werther zum erſtenmal, in
fremder Sprache, mitten in den wüſteſten Gebürgen
von Irland zu leſen. Ich konnte aber auch hier,
aufrichtig geſtanden, den veralteten Leiden keinen
rechten Geſchmack mehr abgewinnen — das viele
Butterbrod, die kleinſtädtiſchen, nicht mehr üblichen
Sitten und ſelbſt die, (gleich den zu Gaſſenhauern
herabgeſunknen ſchönen Mozartſchen Melodieen) jetzt
auch Gemeinplätze gewordnen Ideen, die damals neu
waren — endlich die unwillkührliche Erinnerung an
Potiers köſtliche — Parodie — es war mir nicht
möglich in die rechte Communionsſtimmung, wie
Fr. v. Frömmel ſagt, hinein zu kommen. Aber ſo
viel habe ich, Scherz bei Seite, wenigſtens einge-
ſehn, daß das Buch einſt furore machen mußte —
denn es iſt eine ächt deutſche Stimmung, an der
Werther untergeht, und deutſche Gemüthlichkeit fing
damals eben an, ſich in dem zu materiell gewordnen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0049" n="27"/>
eine alte engli&#x017F;che Ueber&#x017F;etzung von Werther&#x2019;s Leiden.<lb/>
Du weißt wie hoch und innig ich un&#x017F;ern Dichter-<lb/>
für&#x017F;ten verehre, und wir&#x017F;t mir es daher kaum glau-<lb/>
ben wollen, wenn ich Dir &#x017F;age: daß ich die&#x017F;es be-<lb/>
rühmte Buch nie gele&#x017F;en. &#x2014; Der Grund möchte<lb/>
auch Vielen &#x017F;ehr kindi&#x017F;ch vorkommen. Als ich es<lb/>
nämlich zuer&#x017F;t in die Hände bekam, erweckte mir die<lb/>
Stelle, gleich im Anfang, wo Charlotte dem Buben<lb/>
&#x201E;die Rotzna&#x017F;e wi&#x017F;cht&#x201C; einen &#x017F;olchen Eckel, daß ich<lb/>
nicht weiter le&#x017F;en konnte, und die&#x017F;er unangenehme<lb/>
Eindruck blieb mir immer gegenwärtig. Diesmal<lb/>
machte ich mich jedoch ern&#x017F;tlich an die Lectüre, und<lb/>
fand es dabei &#x017F;elt&#x017F;am, Werther zum er&#x017F;tenmal, in<lb/>
fremder Sprache, mitten in den wü&#x017F;te&#x017F;ten Gebürgen<lb/>
von Irland zu le&#x017F;en. Ich konnte aber auch hier,<lb/>
aufrichtig ge&#x017F;tanden, den veralteten Leiden keinen<lb/>
rechten Ge&#x017F;chmack mehr abgewinnen &#x2014; das viele<lb/>
Butterbrod, die klein&#x017F;tädti&#x017F;chen, nicht mehr üblichen<lb/>
Sitten und &#x017F;elb&#x017F;t die, (gleich den zu Ga&#x017F;&#x017F;enhauern<lb/>
herabge&#x017F;unknen &#x017F;chönen Mozart&#x017F;chen Melodieen) jetzt<lb/>
auch Gemeinplätze gewordnen Ideen, die damals neu<lb/>
waren &#x2014; endlich die unwillkührliche Erinnerung an<lb/>
Potiers kö&#x017F;tliche &#x2014; Parodie &#x2014; es war mir nicht<lb/>
möglich in die rechte Communions&#x017F;timmung, wie<lb/>
Fr. v. Frömmel &#x017F;agt, hinein zu kommen. Aber &#x017F;o<lb/>
viel habe ich, Scherz bei Seite, wenig&#x017F;tens einge-<lb/>
&#x017F;ehn, daß das Buch ein&#x017F;t <hi rendition="#aq">furore</hi> machen mußte &#x2014;<lb/>
denn es i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">ächt deut&#x017F;che</hi> Stimmung, an der<lb/>
Werther untergeht, und deut&#x017F;che Gemüthlichkeit fing<lb/>
damals eben an, &#x017F;ich in dem zu materiell gewordnen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0049] eine alte engliſche Ueberſetzung von Werther’s Leiden. Du weißt wie hoch und innig ich unſern Dichter- fürſten verehre, und wirſt mir es daher kaum glau- ben wollen, wenn ich Dir ſage: daß ich dieſes be- rühmte Buch nie geleſen. — Der Grund möchte auch Vielen ſehr kindiſch vorkommen. Als ich es nämlich zuerſt in die Hände bekam, erweckte mir die Stelle, gleich im Anfang, wo Charlotte dem Buben „die Rotznaſe wiſcht“ einen ſolchen Eckel, daß ich nicht weiter leſen konnte, und dieſer unangenehme Eindruck blieb mir immer gegenwärtig. Diesmal machte ich mich jedoch ernſtlich an die Lectüre, und fand es dabei ſeltſam, Werther zum erſtenmal, in fremder Sprache, mitten in den wüſteſten Gebürgen von Irland zu leſen. Ich konnte aber auch hier, aufrichtig geſtanden, den veralteten Leiden keinen rechten Geſchmack mehr abgewinnen — das viele Butterbrod, die kleinſtädtiſchen, nicht mehr üblichen Sitten und ſelbſt die, (gleich den zu Gaſſenhauern herabgeſunknen ſchönen Mozartſchen Melodieen) jetzt auch Gemeinplätze gewordnen Ideen, die damals neu waren — endlich die unwillkührliche Erinnerung an Potiers köſtliche — Parodie — es war mir nicht möglich in die rechte Communionsſtimmung, wie Fr. v. Frömmel ſagt, hinein zu kommen. Aber ſo viel habe ich, Scherz bei Seite, wenigſtens einge- ſehn, daß das Buch einſt furore machen mußte — denn es iſt eine ächt deutſche Stimmung, an der Werther untergeht, und deutſche Gemüthlichkeit fing damals eben an, ſich in dem zu materiell gewordnen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/49
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/49>, abgerufen am 28.03.2024.