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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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stens erinnere mich wohl, daß ich mich nach jenem
Abend lange keinem sinnlichen Eindruck mehr über-
lassen konnte, *) und noch den andern Morgen, als
ich erwachte, heiße Thränen über Belvedeira's Schick-
sal vergoß. Ich war allerdings damals sehr jung,
aber Viele theilten mein Gefühl, und es war auf-
fallend, daß Deutsche, wie Franzosen und Italiener,
gleich enthusiastisch über sie urtheilten, da man sich
doch sonst immer erst an das Nationelle etwas ge-
wöhnen muß, um von einem Schauspieler sich ganz
befriedigt zu fühlen. Sie hatte aber keine Spur
von Manier, es war nur das ächte und edelste Men-
schenbild, das wieder zum innersten Menschen sprach.
Man konnte sie eigentlich nicht schön nennen, obgleich
sie eine edle Gestalt, herrliche Schultern und Arme
und schönes Haar hatte. Ihr Gesicht besaß aber
jenen undefinirbaren tragischen Ausdruck, der beim
ersten Anblick die tiefsten Gefühle der Seele auf-
wühlt. Man glaubt in solchen Zügen die Spur aller
Leidenschaften zu lesen, über welche dennoch überirdi-
sche Ruhe, wie eine Eisdecke über einen Vulkan, ge-
breitet ist.

Gegen so viel Genie und Talent waren die Du-
bliner blind geblieben -- als aber das Jahr darauf,

*) So erkläre ich mir das Wunder der Speisung der
6000 Mann, besser wie Paulus (ich meine den Con-
sistorialrath).
A. d. H.

ſtens erinnere mich wohl, daß ich mich nach jenem
Abend lange keinem ſinnlichen Eindruck mehr über-
laſſen konnte, *) und noch den andern Morgen, als
ich erwachte, heiße Thränen über Belvedeira’s Schick-
ſal vergoß. Ich war allerdings damals ſehr jung,
aber Viele theilten mein Gefühl, und es war auf-
fallend, daß Deutſche, wie Franzoſen und Italiener,
gleich enthuſiaſtiſch über ſie urtheilten, da man ſich
doch ſonſt immer erſt an das Nationelle etwas ge-
wöhnen muß, um von einem Schauſpieler ſich ganz
befriedigt zu fühlen. Sie hatte aber keine Spur
von Manier, es war nur das ächte und edelſte Men-
ſchenbild, das wieder zum innerſten Menſchen ſprach.
Man konnte ſie eigentlich nicht ſchön nennen, obgleich
ſie eine edle Geſtalt, herrliche Schultern und Arme
und ſchönes Haar hatte. Ihr Geſicht beſaß aber
jenen undefinirbaren tragiſchen Ausdruck, der beim
erſten Anblick die tiefſten Gefühle der Seele auf-
wühlt. Man glaubt in ſolchen Zügen die Spur aller
Leidenſchaften zu leſen, über welche dennoch überirdi-
ſche Ruhe, wie eine Eisdecke über einen Vulkan, ge-
breitet iſt.

Gegen ſo viel Genie und Talent waren die Du-
bliner blind geblieben — als aber das Jahr darauf,

*) So erkläre ich mir das Wunder der Speiſung der
6000 Mann, beſſer wie Paulus (ich meine den Con-
ſiſtorialrath).
A. d. H.
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[202/0224] ſtens erinnere mich wohl, daß ich mich nach jenem Abend lange keinem ſinnlichen Eindruck mehr über- laſſen konnte, *) und noch den andern Morgen, als ich erwachte, heiße Thränen über Belvedeira’s Schick- ſal vergoß. Ich war allerdings damals ſehr jung, aber Viele theilten mein Gefühl, und es war auf- fallend, daß Deutſche, wie Franzoſen und Italiener, gleich enthuſiaſtiſch über ſie urtheilten, da man ſich doch ſonſt immer erſt an das Nationelle etwas ge- wöhnen muß, um von einem Schauſpieler ſich ganz befriedigt zu fühlen. Sie hatte aber keine Spur von Manier, es war nur das ächte und edelſte Men- ſchenbild, das wieder zum innerſten Menſchen ſprach. Man konnte ſie eigentlich nicht ſchön nennen, obgleich ſie eine edle Geſtalt, herrliche Schultern und Arme und ſchönes Haar hatte. Ihr Geſicht beſaß aber jenen undefinirbaren tragiſchen Ausdruck, der beim erſten Anblick die tiefſten Gefühle der Seele auf- wühlt. Man glaubt in ſolchen Zügen die Spur aller Leidenſchaften zu leſen, über welche dennoch überirdi- ſche Ruhe, wie eine Eisdecke über einen Vulkan, ge- breitet iſt. Gegen ſo viel Genie und Talent waren die Du- bliner blind geblieben — als aber das Jahr darauf, *) So erkläre ich mir das Wunder der Speiſung der 6000 Mann, beſſer wie Paulus (ich meine den Con- ſiſtorialrath). A. d. H.

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/224>, abgerufen am 25.11.2024.