Ich sehe hier oft einen Mann, B ... H ...., dessen Gesellschaft von hohem Interesse für mich wurde. Er ist, obgleich geistlichen Standes, einer von den wenigen unabhängigen Denkern, die fähig sind, die Tyrannei früherer Eindrücke und alter Gewohnhei- ten abzuschütteln, und beim Lichte der Vernunft oder mit andern Worten, der göttlichen Offenbarung, allein zu sehen. Auch seiner Meinung nach ist eine Crisis in dem Gebiete der Religion nicht allzufern. Die religieusen Gebäude, wie sie noch größtentheils be- stehen, sagte er heute, sind offenbar die seltsamsten Mißgeburten von Erhabenem und Lächerlichem, von ewiger Wahrheit und dunkler Unwissenheit, von ächter Philosophie und Götzendienst. Je mehr die Menschen lernen, je mehr die Wissenschaft uns die Natur
Zwei und vierzigſter Brief.
Dublin, den 20ſten November 1828.
Geliebte Freundin!
Ich ſehe hier oft einen Mann, B … H ...., deſſen Geſellſchaft von hohem Intereſſe für mich wurde. Er iſt, obgleich geiſtlichen Standes, einer von den wenigen unabhängigen Denkern, die fähig ſind, die Tyrannei früherer Eindrücke und alter Gewohnhei- ten abzuſchütteln, und beim Lichte der Vernunft oder mit andern Worten, der göttlichen Offenbarung, allein zu ſehen. Auch ſeiner Meinung nach iſt eine Criſis in dem Gebiete der Religion nicht allzufern. Die religieuſen Gebäude, wie ſie noch größtentheils be- ſtehen, ſagte er heute, ſind offenbar die ſeltſamſten Mißgeburten von Erhabenem und Lächerlichem, von ewiger Wahrheit und dunkler Unwiſſenheit, von ächter Philoſophie und Götzendienſt. Je mehr die Menſchen lernen, je mehr die Wiſſenſchaft uns die Natur
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[[192]/0214]
Zwei und vierzigſter Brief.
Dublin, den 20ſten November 1828.
Geliebte Freundin!
Ich ſehe hier oft einen Mann, B … H ...., deſſen
Geſellſchaft von hohem Intereſſe für mich wurde.
Er iſt, obgleich geiſtlichen Standes, einer von den
wenigen unabhängigen Denkern, die fähig ſind, die
Tyrannei früherer Eindrücke und alter Gewohnhei-
ten abzuſchütteln, und beim Lichte der Vernunft oder
mit andern Worten, der göttlichen Offenbarung, allein
zu ſehen. Auch ſeiner Meinung nach iſt eine Criſis
in dem Gebiete der Religion nicht allzufern. Die
religieuſen Gebäude, wie ſie noch größtentheils be-
ſtehen, ſagte er heute, ſind offenbar die ſeltſamſten
Mißgeburten von Erhabenem und Lächerlichem, von
ewiger Wahrheit und dunkler Unwiſſenheit, von ächter
Philoſophie und Götzendienſt. Je mehr die Menſchen
lernen, je mehr die Wiſſenſchaft uns die Natur
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. [192]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/214>, abgerufen am 22.11.2024.
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