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[Poppe, Johann Friedrich]: Characteristik der merkwürdigsten Asiatischen Nationen. Bd. 2. Breslau, 1777.

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Diese dritte Religionssecte wird die Secte
des Siuto genannt. Dieß Wort bedeutet ei-
gentlich so viel, als der Weg oder die Religion
der Philosophen. Den Anhängern dieser Reli-
gion macht es ein Vergnügen, sich über die
Meynungen des Pöbels zu erheben, und sich ei-
gentlich zu keiner Religion zu bekennen. Sie
geben vor, die wahre Größe und Glückseeligkeit
eines Menschen bestehe darinn, weise und tugend-
haft zu leben. Zu einem weisen und tugend-
haften Leben, behaupten diese Philosophen wei-
ter, sey der Mensch, weil er von Natur ver-
nünftig erschaffen, schlechterdings verbunden.
Die Lehre der Seelenwanderung ist ihnen eine
lächerliche Chimäre, und behaupten dagegen,
daß unsre Seelen von einem allgemeinen Geiste,
der die ganze Natur belebt, entsprungen sind,
und nach ihrer Trennung vom Körper zu eben
diesen Geist -- wie die Flüße, wenn sie ihren
Lauf vollendet, sich ins Meer stürzen -- zurück-
kehren. -- Sie rufen keine Gottheit an, und
haben weder Tempel noch Gottesdienst unter
sich eingeführt. Ihre Religionsübungen beste-
hen (wenn man sie so nennen kann) in einigen
Gebräuchen zum Gedächtniß ihrer Väter und
nächsten Anverwandten. Der Selbstmord wird
von ihnen für eine Heldenthat gehalten, haupt-
sächlich, wenn jemand dadurch einer Schande
oder Sclaverey entgehen kann.

Ueberhaupt stimmen die Grundsätze dieser
Philosophen mit den der Sintoisten in den

meisten
C

Dieſe dritte Religionsſecte wird die Secte
des Siuto genannt. Dieß Wort bedeutet ei-
gentlich ſo viel, als der Weg oder die Religion
der Philoſophen. Den Anhaͤngern dieſer Reli-
gion macht es ein Vergnuͤgen, ſich uͤber die
Meynungen des Poͤbels zu erheben, und ſich ei-
gentlich zu keiner Religion zu bekennen. Sie
geben vor, die wahre Groͤße und Gluͤckſeeligkeit
eines Menſchen beſtehe darinn, weiſe und tugend-
haft zu leben. Zu einem weiſen und tugend-
haften Leben, behaupten dieſe Philoſophen wei-
ter, ſey der Menſch, weil er von Natur ver-
nuͤnftig erſchaffen, ſchlechterdings verbunden.
Die Lehre der Seelenwanderung iſt ihnen eine
laͤcherliche Chimaͤre, und behaupten dagegen,
daß unſre Seelen von einem allgemeinen Geiſte,
der die ganze Natur belebt, entſprungen ſind,
und nach ihrer Trennung vom Koͤrper zu eben
dieſen Geiſt — wie die Fluͤße, wenn ſie ihren
Lauf vollendet, ſich ins Meer ſtuͤrzen — zuruͤck-
kehren. — Sie rufen keine Gottheit an, und
haben weder Tempel noch Gottesdienſt unter
ſich eingefuͤhrt. Ihre Religionsuͤbungen beſte-
hen (wenn man ſie ſo nennen kann) in einigen
Gebraͤuchen zum Gedaͤchtniß ihrer Vaͤter und
naͤchſten Anverwandten. Der Selbſtmord wird
von ihnen fuͤr eine Heldenthat gehalten, haupt-
ſaͤchlich, wenn jemand dadurch einer Schande
oder Sclaverey entgehen kann.

Ueberhaupt ſtimmen die Grundſaͤtze dieſer
Philoſophen mit den der Sintoiſten in den

meiſten
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[33/0059] Dieſe dritte Religionsſecte wird die Secte des Siuto genannt. Dieß Wort bedeutet ei- gentlich ſo viel, als der Weg oder die Religion der Philoſophen. Den Anhaͤngern dieſer Reli- gion macht es ein Vergnuͤgen, ſich uͤber die Meynungen des Poͤbels zu erheben, und ſich ei- gentlich zu keiner Religion zu bekennen. Sie geben vor, die wahre Groͤße und Gluͤckſeeligkeit eines Menſchen beſtehe darinn, weiſe und tugend- haft zu leben. Zu einem weiſen und tugend- haften Leben, behaupten dieſe Philoſophen wei- ter, ſey der Menſch, weil er von Natur ver- nuͤnftig erſchaffen, ſchlechterdings verbunden. Die Lehre der Seelenwanderung iſt ihnen eine laͤcherliche Chimaͤre, und behaupten dagegen, daß unſre Seelen von einem allgemeinen Geiſte, der die ganze Natur belebt, entſprungen ſind, und nach ihrer Trennung vom Koͤrper zu eben dieſen Geiſt — wie die Fluͤße, wenn ſie ihren Lauf vollendet, ſich ins Meer ſtuͤrzen — zuruͤck- kehren. — Sie rufen keine Gottheit an, und haben weder Tempel noch Gottesdienſt unter ſich eingefuͤhrt. Ihre Religionsuͤbungen beſte- hen (wenn man ſie ſo nennen kann) in einigen Gebraͤuchen zum Gedaͤchtniß ihrer Vaͤter und naͤchſten Anverwandten. Der Selbſtmord wird von ihnen fuͤr eine Heldenthat gehalten, haupt- ſaͤchlich, wenn jemand dadurch einer Schande oder Sclaverey entgehen kann. Ueberhaupt ſtimmen die Grundſaͤtze dieſer Philoſophen mit den der Sintoiſten in den meiſten C

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Zitationshilfe: [Poppe, Johann Friedrich]: Characteristik der merkwürdigsten Asiatischen Nationen. Bd. 2. Breslau, 1777, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poppe_charakteristik02_1777/59>, abgerufen am 24.11.2024.