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Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897.

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"Schon deshalb habe die gewerkschaftliche Bewegung so gut wie
keine Bedeutung, weil der Kapitalist, sobald die Arbeiter durch
eine Lohnbewegung verbesserte Löhne erhalten haben, auch sofort
die Preise seiner Fabrikate erhöht, so daß also in letzter Instanz
die Arbeiterklasse aus den gewerkschaftlichen Kämpfen keinen
Nutzen ziehen kann. Sie muß für Lebensmittel, Mobilien,
Wohnungsmiethe etc. soviel mehr zahlen, als jene Lohnerhöhung
ausmacht, welche durch Streiks u. s. w. von den verschiedensten
Kategorien erreicht worden ist." Diese Ansicht habe ich oft ge¬
hört, ja selbst von Personen, die gewerkschaftlich organisirt
waren. -- Sie wurden auch einst von Proudhon vertheidigt,
und sah sich Karl Marx bereits vor 52 Jahren veranlaßt,
ihr im "Elend der Philosophie" gegenüberzutreten und die
Unrichtigkeit derselben zu beweisen. -- Gewiß kommt es vor,
daß an irgend einem kleinen Orte, wo z. B. die Schuhmacher¬
gesellen eine Erhöhung des Lohnes erreicht, und die Schuh¬
machermeister darüber vor Aerger beinahe den Verstand ver¬
loren haben, in allen Zeitungen bekannt machen, daß von
jetzt ab das Stiefelbesohlen so und so viel mehr kostet;
doch die Konkurrenz bringt die wild gewordenen Meister bald
wieder zur Vernunft und drückt die Preise auf das frühere
Niveau herunter. -- Auch ist es nicht abzuleugnen, daß Streiks
von den Kapitalisten provozirt worden sind, um die Preise ihrer
Fabrikate steigern zu können. Doch alles dieses sind nur Aus¬
nahmen, die garnichts besagen. Wäre die erwähnte Behauptung
richtig, so müßten die englischen Arbeiter noch immer auf der¬
selben elenden Stufe stehen, wie am Anfange dieses Jahr¬
hunderts. Dieses ist nicht der Fall und damit die Unrichtigkeit
dieser Annahme bewiesen.

Ferner legen deshalb einige Personen der gewerkschaftlichen
Bewegung keine große Bedeutung bei, weil sie annehmen, daß
die deutsche Arbeiterklasse, einerseits in Folge ihrer starken po¬
litischen Bewegung und anderseits durch die Zuspitzung der heu¬
tigen Verhältnisse, bald die Staatsgewalt erobern werde. "Ehe
wir es in Deutschland zu einer starken Gewerkschafts¬
bewegung gebracht haben
, besitzen wir längst die po¬
litische Macht
." Diesen Ausspruch habe ich viele, viele Male
zu hören bekommen, doch sind meines Erachtens noch derartige
Aussichten garnicht vorhanden. -- Die deutsche Sozialdemokratie
arbeitet nun schon über drei Jahrzehnte und hat erst -- wie
dieses auch nicht anders sein kann -- den kleineren Theil
der arbeitenden Bevölkerung für sich gewonnen. Die bisher ge¬
leistete Arbeit ist aber viel leichter gewesen als die kommende. --
Ferner: -- Ist in der heutigen Sozialdemokratie Alles Gold was
glänzt?! Ist nicht nur Vieles Talmi?! In den Großstädten
ist es unter den Arbeitern förmlich zur Mode geworden, Sozial¬
demokrat sein zu müssen. Jeder Klimbimverein, Skat-, Rad¬
fahrer-, Raucherklub etc. muß einen sozialdemokratischen Anstrich
haben, trotzdem die meisten Mitglieder dieser Vereine nicht die
blasse Ahnung von der Sozialdemokratie und deren Bestrebungen
besitzen, noch nie eine Stunde sich den Kopf mit derartigen
Fragen zerbrochen haben.

„Schon deshalb habe die gewerkſchaftliche Bewegung ſo gut wie
keine Bedeutung, weil der Kapitaliſt, ſobald die Arbeiter durch
eine Lohnbewegung verbeſſerte Löhne erhalten haben, auch ſofort
die Preiſe ſeiner Fabrikate erhöht, ſo daß alſo in letzter Inſtanz
die Arbeiterklaſſe aus den gewerkſchaftlichen Kämpfen keinen
Nutzen ziehen kann. Sie muß für Lebensmittel, Mobilien,
Wohnungsmiethe ꝛc. ſoviel mehr zahlen, als jene Lohnerhöhung
ausmacht, welche durch Streiks u. ſ. w. von den verſchiedenſten
Kategorien erreicht worden iſt.“ Dieſe Anſicht habe ich oft ge¬
hört, ja ſelbſt von Perſonen, die gewerkſchaftlich organiſirt
waren. — Sie wurden auch einſt von Proudhon vertheidigt,
und ſah ſich Karl Marx bereits vor 52 Jahren veranlaßt,
ihr im „Elend der Philoſophie“ gegenüberzutreten und die
Unrichtigkeit derſelben zu beweiſen. — Gewiß kommt es vor,
daß an irgend einem kleinen Orte, wo z. B. die Schuhmacher¬
geſellen eine Erhöhung des Lohnes erreicht, und die Schuh¬
machermeiſter darüber vor Aerger beinahe den Verſtand ver¬
loren haben, in allen Zeitungen bekannt machen, daß von
jetzt ab das Stiefelbeſohlen ſo und ſo viel mehr koſtet;
doch die Konkurrenz bringt die wild gewordenen Meiſter bald
wieder zur Vernunft und drückt die Preiſe auf das frühere
Niveau herunter. — Auch iſt es nicht abzuleugnen, daß Streiks
von den Kapitaliſten provozirt worden ſind, um die Preiſe ihrer
Fabrikate ſteigern zu können. Doch alles dieſes ſind nur Aus¬
nahmen, die garnichts beſagen. Wäre die erwähnte Behauptung
richtig, ſo müßten die engliſchen Arbeiter noch immer auf der¬
ſelben elenden Stufe ſtehen, wie am Anfange dieſes Jahr¬
hunderts. Dieſes iſt nicht der Fall und damit die Unrichtigkeit
dieſer Annahme bewieſen.

Ferner legen deshalb einige Perſonen der gewerkſchaftlichen
Bewegung keine große Bedeutung bei, weil ſie annehmen, daß
die deutſche Arbeiterklaſſe, einerſeits in Folge ihrer ſtarken po¬
litiſchen Bewegung und anderſeits durch die Zuſpitzung der heu¬
tigen Verhältniſſe, bald die Staatsgewalt erobern werde. „Ehe
wir es in Deutſchland zu einer ſtarken Gewerkſchafts¬
bewegung gebracht haben
, beſitzen wir längſt die po¬
litiſche Macht
.“ Dieſen Ausſpruch habe ich viele, viele Male
zu hören bekommen, doch ſind meines Erachtens noch derartige
Ausſichten garnicht vorhanden. — Die deutſche Sozialdemokratie
arbeitet nun ſchon über drei Jahrzehnte und hat erſt — wie
dieſes auch nicht anders ſein kann — den kleineren Theil
der arbeitenden Bevölkerung für ſich gewonnen. Die bisher ge¬
leiſtete Arbeit iſt aber viel leichter geweſen als die kommende. —
Ferner: — Iſt in der heutigen Sozialdemokratie Alles Gold was
glänzt?! Iſt nicht nur Vieles Talmi?! In den Großſtädten
iſt es unter den Arbeitern förmlich zur Mode geworden, Sozial¬
demokrat ſein zu müſſen. Jeder Klimbimverein, Skat-, Rad¬
fahrer-, Raucherklub ꝛc. muß einen ſozialdemokratiſchen Anſtrich
haben, trotzdem die meiſten Mitglieder dieſer Vereine nicht die
blaſſe Ahnung von der Sozialdemokratie und deren Beſtrebungen
beſitzen, noch nie eine Stunde ſich den Kopf mit derartigen
Fragen zerbrochen haben.

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[12/0020] „Schon deshalb habe die gewerkſchaftliche Bewegung ſo gut wie keine Bedeutung, weil der Kapitaliſt, ſobald die Arbeiter durch eine Lohnbewegung verbeſſerte Löhne erhalten haben, auch ſofort die Preiſe ſeiner Fabrikate erhöht, ſo daß alſo in letzter Inſtanz die Arbeiterklaſſe aus den gewerkſchaftlichen Kämpfen keinen Nutzen ziehen kann. Sie muß für Lebensmittel, Mobilien, Wohnungsmiethe ꝛc. ſoviel mehr zahlen, als jene Lohnerhöhung ausmacht, welche durch Streiks u. ſ. w. von den verſchiedenſten Kategorien erreicht worden iſt.“ Dieſe Anſicht habe ich oft ge¬ hört, ja ſelbſt von Perſonen, die gewerkſchaftlich organiſirt waren. — Sie wurden auch einſt von Proudhon vertheidigt, und ſah ſich Karl Marx bereits vor 52 Jahren veranlaßt, ihr im „Elend der Philoſophie“ gegenüberzutreten und die Unrichtigkeit derſelben zu beweiſen. — Gewiß kommt es vor, daß an irgend einem kleinen Orte, wo z. B. die Schuhmacher¬ geſellen eine Erhöhung des Lohnes erreicht, und die Schuh¬ machermeiſter darüber vor Aerger beinahe den Verſtand ver¬ loren haben, in allen Zeitungen bekannt machen, daß von jetzt ab das Stiefelbeſohlen ſo und ſo viel mehr koſtet; doch die Konkurrenz bringt die wild gewordenen Meiſter bald wieder zur Vernunft und drückt die Preiſe auf das frühere Niveau herunter. — Auch iſt es nicht abzuleugnen, daß Streiks von den Kapitaliſten provozirt worden ſind, um die Preiſe ihrer Fabrikate ſteigern zu können. Doch alles dieſes ſind nur Aus¬ nahmen, die garnichts beſagen. Wäre die erwähnte Behauptung richtig, ſo müßten die engliſchen Arbeiter noch immer auf der¬ ſelben elenden Stufe ſtehen, wie am Anfange dieſes Jahr¬ hunderts. Dieſes iſt nicht der Fall und damit die Unrichtigkeit dieſer Annahme bewieſen. Ferner legen deshalb einige Perſonen der gewerkſchaftlichen Bewegung keine große Bedeutung bei, weil ſie annehmen, daß die deutſche Arbeiterklaſſe, einerſeits in Folge ihrer ſtarken po¬ litiſchen Bewegung und anderſeits durch die Zuſpitzung der heu¬ tigen Verhältniſſe, bald die Staatsgewalt erobern werde. „Ehe wir es in Deutſchland zu einer ſtarken Gewerkſchafts¬ bewegung gebracht haben, beſitzen wir längſt die po¬ litiſche Macht.“ Dieſen Ausſpruch habe ich viele, viele Male zu hören bekommen, doch ſind meines Erachtens noch derartige Ausſichten garnicht vorhanden. — Die deutſche Sozialdemokratie arbeitet nun ſchon über drei Jahrzehnte und hat erſt — wie dieſes auch nicht anders ſein kann — den kleineren Theil der arbeitenden Bevölkerung für ſich gewonnen. Die bisher ge¬ leiſtete Arbeit iſt aber viel leichter geweſen als die kommende. — Ferner: — Iſt in der heutigen Sozialdemokratie Alles Gold was glänzt?! Iſt nicht nur Vieles Talmi?! In den Großſtädten iſt es unter den Arbeitern förmlich zur Mode geworden, Sozial¬ demokrat ſein zu müſſen. Jeder Klimbimverein, Skat-, Rad¬ fahrer-, Raucherklub ꝛc. muß einen ſozialdemokratiſchen Anſtrich haben, trotzdem die meiſten Mitglieder dieſer Vereine nicht die blaſſe Ahnung von der Sozialdemokratie und deren Beſtrebungen beſitzen, noch nie eine Stunde ſich den Kopf mit derartigen Fragen zerbrochen haben.

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Zitationshilfe: Poersch, Bruno: Woran krankt die deutsche Gewerkschaftsbewegung? Berlin, 1897, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poersch_gewerkschaftsbewegung_1897/20>, abgerufen am 22.11.2024.