Platen, August von: Der romantische Oedipus. Stuttgart u. a., 1829. Berg Cithäron. Diagoras (allein). Dieß ist die Stelle, wo mit bitterm Schafte Der Gott der Liebe mir die Brust zertheilet, Wo ich gesehn die schöne Tugendhafte, Die mich so schnell verletzt und nie geheilet; Denn solche Wunden trotzen jedem Tafte! Mit ihrer Säge hat die Zeit gefeilet In meine Stirn indessen manche Linie, Ja, fast verknorpelt deinen Stamm, o Pinie! Hier mögen glückliche Verliebte schweifen, Den Schmerz genießen und die Freude klagen; Hier mag ein Hirt der Hirtin Lieder pfeifen, Und einen Kuß nach jedem Liede wagen; Hier mag ein Faun nach einer Nymphe greifen, Wo Büsche laubenhaft zusammenschlagen: Mich mögen Schäfer hier im Moos begraben, Und über mich die sanfte Heerde traben. Doch eh' den Hals ich mit dem Seil umzwirne, Will hier ich noch einmal des Schlafs genießen, Er lehre mich und meine müde Stirne, Wie leicht es ist, die Augen zuzuschließen: Die Welt vergeht im menschlichen Gehirne, Der Elemente Bildungen zerfließen, Die Seele sieht, wie Sonn' und Mond erbleichen, Und hört den Tod, wie auf den Zehen schleichen. (Er schläft ein.) Berg Cithaͤron. Diagoras (allein). Dieß iſt die Stelle, wo mit bitterm Schafte Der Gott der Liebe mir die Bruſt zertheilet, Wo ich geſehn die ſchoͤne Tugendhafte, Die mich ſo ſchnell verletzt und nie geheilet; Denn ſolche Wunden trotzen jedem Tafte! Mit ihrer Saͤge hat die Zeit gefeilet In meine Stirn indeſſen manche Linie, Ja, faſt verknorpelt deinen Stamm, o Pinie! Hier moͤgen gluͤckliche Verliebte ſchweifen, Den Schmerz genießen und die Freude klagen; Hier mag ein Hirt der Hirtin Lieder pfeifen, Und einen Kuß nach jedem Liede wagen; Hier mag ein Faun nach einer Nymphe greifen, Wo Buͤſche laubenhaft zuſammenſchlagen: Mich moͤgen Schaͤfer hier im Moos begraben, Und uͤber mich die ſanfte Heerde traben. Doch eh' den Hals ich mit dem Seil umzwirne, Will hier ich noch einmal des Schlafs genießen, Er lehre mich und meine muͤde Stirne, Wie leicht es iſt, die Augen zuzuſchließen: Die Welt vergeht im menſchlichen Gehirne, Der Elemente Bildungen zerfließen, Die Seele ſieht, wie Sonn' und Mond erbleichen, Und hoͤrt den Tod, wie auf den Zehen ſchleichen. (Er ſchlaͤft ein.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#LAJ"> <pb facs="#f0036" n="30"/> <stage> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Berg Cithaͤron</hi>.</hi> </stage> </sp><lb/> <sp who="#DIA"> <speaker> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Diagoras</hi> </hi> </speaker> <stage> <hi rendition="#c">(allein).</hi> </stage><lb/> <p>Dieß iſt die Stelle, wo mit bitterm Schafte<lb/> Der Gott der Liebe mir die Bruſt zertheilet,<lb/> Wo ich geſehn die ſchoͤne Tugendhafte,<lb/> Die mich ſo ſchnell verletzt und nie geheilet;<lb/> Denn ſolche Wunden trotzen jedem Tafte!<lb/> Mit ihrer Saͤge hat die Zeit gefeilet<lb/> In meine Stirn indeſſen manche Linie,<lb/> Ja, faſt verknorpelt deinen Stamm, o Pinie!</p><lb/> <p>Hier moͤgen gluͤckliche Verliebte ſchweifen,<lb/> Den Schmerz genießen und die Freude klagen;<lb/> Hier mag ein Hirt der Hirtin Lieder pfeifen,<lb/> Und einen Kuß nach jedem Liede wagen;<lb/> Hier mag ein Faun nach einer Nymphe greifen,<lb/> Wo Buͤſche laubenhaft zuſammenſchlagen:<lb/> Mich moͤgen Schaͤfer hier im Moos begraben,<lb/> Und uͤber mich die ſanfte Heerde traben.</p><lb/> <p>Doch eh' den Hals ich mit dem Seil umzwirne,<lb/> Will hier ich noch einmal des Schlafs genießen,<lb/> Er lehre mich und meine muͤde Stirne,<lb/> Wie leicht es iſt, die Augen zuzuſchließen:<lb/> Die Welt vergeht im menſchlichen Gehirne,<lb/> Der Elemente Bildungen zerfließen,<lb/> Die Seele ſieht, wie Sonn' und Mond erbleichen,<lb/> Und hoͤrt den Tod, wie auf den Zehen ſchleichen.</p><lb/> <stage> <hi rendition="#c">(Er ſchlaͤft ein.)</hi> </stage><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0036]
Berg Cithaͤron.
Diagoras (allein).
Dieß iſt die Stelle, wo mit bitterm Schafte
Der Gott der Liebe mir die Bruſt zertheilet,
Wo ich geſehn die ſchoͤne Tugendhafte,
Die mich ſo ſchnell verletzt und nie geheilet;
Denn ſolche Wunden trotzen jedem Tafte!
Mit ihrer Saͤge hat die Zeit gefeilet
In meine Stirn indeſſen manche Linie,
Ja, faſt verknorpelt deinen Stamm, o Pinie!
Hier moͤgen gluͤckliche Verliebte ſchweifen,
Den Schmerz genießen und die Freude klagen;
Hier mag ein Hirt der Hirtin Lieder pfeifen,
Und einen Kuß nach jedem Liede wagen;
Hier mag ein Faun nach einer Nymphe greifen,
Wo Buͤſche laubenhaft zuſammenſchlagen:
Mich moͤgen Schaͤfer hier im Moos begraben,
Und uͤber mich die ſanfte Heerde traben.
Doch eh' den Hals ich mit dem Seil umzwirne,
Will hier ich noch einmal des Schlafs genießen,
Er lehre mich und meine muͤde Stirne,
Wie leicht es iſt, die Augen zuzuſchließen:
Die Welt vergeht im menſchlichen Gehirne,
Der Elemente Bildungen zerfließen,
Die Seele ſieht, wie Sonn' und Mond erbleichen,
Und hoͤrt den Tod, wie auf den Zehen ſchleichen.
(Er ſchlaͤft ein.)
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