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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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mit der kriechenden Poesie.
halbtrunkene Kanzler auf einer gewissen Uni-
versität, der da meynte, er läse über einen an-
dern Autor,
da es doch sein eigenes Buch war,
darüber er las, und nach einer vorgelesenen Pas-
sage sagte: Hier raisonnirt der Autor wie ein
Ochse!

§ 9. Weil ich aber, vermöge der Verfas-
sung der edlen Gesellschaft, deren Mitglied ich
heute zu werden die Ehre haben soll, über die
drey Haupt-Sinnbilder derselben, der Schlan-
ge,
des Frosches und der Maus, annoch we-
nigstens sieben Arten kriechender Thiere ange-
ben, und solche mit denen kriechenden Poeten
in Vergleich stellen muß: So dünke mich keine
Katze
zu seyn, wenn ich ihnen zuerst eine Art
kriechender Thiere namhaft mache, die sie wol
schwerlich darunter bisher werden gerechnet ha-
ben. Was meynen sie, meine Herren, sollte
ein Hund wol ein kriechendes Thier seyn?
Sie werden sagen: Das sey der gesunden Ver-
nunft und Erfahrung entgegen; denn er laufe
über der Erde auf vier Beinen. Jch sage da-
gegen mit Gunst: Es läufet der Holz-Wurm,
die Spinne, der Keller-Wurm und viel andere
Gewürme mit wol mehr als vier Füßen über
der Erde, und gehören doch unter das kriechen-
de
Gewürme. Also scheint mir die Folge unse-
rer Gegner, die so mit der gesunden Vernunft,
ihren fünf Sinnen und der Erfahrung pralen,
so lahm zu seyn, als ein angeschossenes Wild.
Zudem nehme ich nur zwey Fälle an, worinn

ich

mit der kriechenden Poeſie.
halbtrunkene Kanzler auf einer gewiſſen Uni-
verſitaͤt, der da meynte, er laͤſe uͤber einen an-
dern Autor,
da es doch ſein eigenes Buch war,
daruͤber er las, und nach einer vorgeleſenen Paſ-
ſage ſagte: Hier raiſonnirt der Autor wie ein
Ochſe!

§ 9. Weil ich aber, vermoͤge der Verfaſ-
ſung der edlen Geſellſchaft, deren Mitglied ich
heute zu werden die Ehre haben ſoll, uͤber die
drey Haupt-Sinnbilder derſelben, der Schlan-
ge,
des Froſches und der Maus, annoch we-
nigſtens ſieben Arten kriechender Thiere ange-
ben, und ſolche mit denen kriechenden Poeten
in Vergleich ſtellen muß: So duͤnke mich keine
Katze
zu ſeyn, wenn ich ihnen zuerſt eine Art
kriechender Thiere namhaft mache, die ſie wol
ſchwerlich darunter bisher werden gerechnet ha-
ben. Was meynen ſie, meine Herren, ſollte
ein Hund wol ein kriechendes Thier ſeyn?
Sie werden ſagen: Das ſey der geſunden Ver-
nunft und Erfahrung entgegen; denn er laufe
uͤber der Erde auf vier Beinen. Jch ſage da-
gegen mit Gunſt: Es laͤufet der Holz-Wurm,
die Spinne, der Keller-Wurm und viel andere
Gewuͤrme mit wol mehr als vier Fuͤßen uͤber
der Erde, und gehoͤren doch unter das kriechen-
de
Gewuͤrme. Alſo ſcheint mir die Folge unſe-
rer Gegner, die ſo mit der geſunden Vernunft,
ihren fuͤnf Sinnen und der Erfahrung pralen,
ſo lahm zu ſeyn, als ein angeſchoſſenes Wild.
Zudem nehme ich nur zwey Faͤlle an, worinn

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[47/0055] mit der kriechenden Poeſie. halbtrunkene Kanzler auf einer gewiſſen Uni- verſitaͤt, der da meynte, er laͤſe uͤber einen an- dern Autor, da es doch ſein eigenes Buch war, daruͤber er las, und nach einer vorgeleſenen Paſ- ſage ſagte: Hier raiſonnirt der Autor wie ein Ochſe! § 9. Weil ich aber, vermoͤge der Verfaſ- ſung der edlen Geſellſchaft, deren Mitglied ich heute zu werden die Ehre haben ſoll, uͤber die drey Haupt-Sinnbilder derſelben, der Schlan- ge, des Froſches und der Maus, annoch we- nigſtens ſieben Arten kriechender Thiere ange- ben, und ſolche mit denen kriechenden Poeten in Vergleich ſtellen muß: So duͤnke mich keine Katze zu ſeyn, wenn ich ihnen zuerſt eine Art kriechender Thiere namhaft mache, die ſie wol ſchwerlich darunter bisher werden gerechnet ha- ben. Was meynen ſie, meine Herren, ſollte ein Hund wol ein kriechendes Thier ſeyn? Sie werden ſagen: Das ſey der geſunden Ver- nunft und Erfahrung entgegen; denn er laufe uͤber der Erde auf vier Beinen. Jch ſage da- gegen mit Gunſt: Es laͤufet der Holz-Wurm, die Spinne, der Keller-Wurm und viel andere Gewuͤrme mit wol mehr als vier Fuͤßen uͤber der Erde, und gehoͤren doch unter das kriechen- de Gewuͤrme. Alſo ſcheint mir die Folge unſe- rer Gegner, die ſo mit der geſunden Vernunft, ihren fuͤnf Sinnen und der Erfahrung pralen, ſo lahm zu ſeyn, als ein angeſchoſſenes Wild. Zudem nehme ich nur zwey Faͤlle an, worinn ich

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/55>, abgerufen am 27.04.2024.