Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.Zwey hundert Maximen ohne selber ein gründlich Urtheil vom Wahrenund Falschen fällen zu können, der ist ein leben- dig Wörter-Buch und eine klingende Schelle, oder ein lebendiges Bücher-Repositorium, auf welchem ganz widerwärtige Schriften neben einander stehen können, dazu der Entscheider fehlet. CLXXII. Die Beredsamkeit ist eine Fer- tigkeit, seine Gedanken in einer Sprache nicht nur rein, sondern auch deutlich und schön aus- zudrücken, daß man von der vorgetragenen Wahrheit lebendig gerührt wird. Wer aber keine reelle Wahrheiten aus der ersten und an- dern Classe hat, wird sich entweder mit andrer Gedanken behelfen müssen, oder einen gelehr- ten Wäscher abgeben, der sixcalax von allem plaudert, was ihm ins Maul kömmt. Der größte Redner, in so fern er ein Redner ist, ste- het nur in der untersten Classe der Gelehrten. Träget er aber Wahrheiten vom ersten Range oratorisch vor: So gehört er unter die Gelehr- ten vom öbersten Range. Nicht der Rede- Vortrag, sondern die Wichtigkeit der vorgetra- genen Sache macht den Unterschied zwischen großen und kleinen Gelehrten. CLXXIII. Die Poesie ist eine Hülfs-Wis- senschaft, gründliche Wahrheiten in wohlge- schlossenen Reimen nachdrücklich und lebhaft vorzutragen. Sind nun die Sachen, so in Reimen vorgetragen werden, niedrig, gemein, läppisch und leichtfertig: So ist die ganze Poe- sie
Zwey hundert Maximen ohne ſelber ein gruͤndlich Urtheil vom Wahrenund Falſchen faͤllen zu koͤnnen, der iſt ein leben- dig Woͤrter-Buch und eine klingende Schelle, oder ein lebendiges Buͤcher-Repoſitorium, auf welchem ganz widerwaͤrtige Schriften neben einander ſtehen koͤnnen, dazu der Entſcheider fehlet. CLXXII. Die Beredſamkeit iſt eine Fer- tigkeit, ſeine Gedanken in einer Sprache nicht nur rein, ſondern auch deutlich und ſchoͤn aus- zudruͤcken, daß man von der vorgetragenen Wahrheit lebendig geruͤhrt wird. Wer aber keine reelle Wahrheiten aus der erſten und an- dern Claſſe hat, wird ſich entweder mit andrer Gedanken behelfen muͤſſen, oder einen gelehr- ten Waͤſcher abgeben, der ſixcalax von allem plaudert, was ihm ins Maul koͤmmt. Der groͤßte Redner, in ſo fern er ein Redner iſt, ſte- het nur in der unterſten Claſſe der Gelehrten. Traͤget er aber Wahrheiten vom erſten Range oratoriſch vor: So gehoͤrt er unter die Gelehr- ten vom oͤberſten Range. Nicht der Rede- Vortrag, ſondern die Wichtigkeit der vorgetra- genen Sache macht den Unterſchied zwiſchen großen und kleinen Gelehrten. CLXXIII. Die Poeſie iſt eine Huͤlfs-Wiſ- ſenſchaft, gruͤndliche Wahrheiten in wohlge- ſchloſſenen Reimen nachdruͤcklich und lebhaft vorzutragen. Sind nun die Sachen, ſo in Reimen vorgetragen werden, niedrig, gemein, laͤppiſch und leichtfertig: So iſt die ganze Poe- ſie
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Zwey hundert Maximen
ohne ſelber ein gruͤndlich Urtheil vom Wahren
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dig Woͤrter-Buch und eine klingende Schelle,
oder ein lebendiges Buͤcher-Repoſitorium, auf
welchem ganz widerwaͤrtige Schriften neben
einander ſtehen koͤnnen, dazu der Entſcheider
fehlet.
CLXXII. Die Beredſamkeit iſt eine Fer-
tigkeit, ſeine Gedanken in einer Sprache nicht
nur rein, ſondern auch deutlich und ſchoͤn aus-
zudruͤcken, daß man von der vorgetragenen
Wahrheit lebendig geruͤhrt wird. Wer aber
keine reelle Wahrheiten aus der erſten und an-
dern Claſſe hat, wird ſich entweder mit andrer
Gedanken behelfen muͤſſen, oder einen gelehr-
ten Waͤſcher abgeben, der ſixcalax von allem
plaudert, was ihm ins Maul koͤmmt. Der
groͤßte Redner, in ſo fern er ein Redner iſt, ſte-
het nur in der unterſten Claſſe der Gelehrten.
Traͤget er aber Wahrheiten vom erſten Range
oratoriſch vor: So gehoͤrt er unter die Gelehr-
ten vom oͤberſten Range. Nicht der Rede-
Vortrag, ſondern die Wichtigkeit der vorgetra-
genen Sache macht den Unterſchied zwiſchen
großen und kleinen Gelehrten.
CLXXIII. Die Poeſie iſt eine Huͤlfs-Wiſ-
ſenſchaft, gruͤndliche Wahrheiten in wohlge-
ſchloſſenen Reimen nachdruͤcklich und lebhaft
vorzutragen. Sind nun die Sachen, ſo in
Reimen vorgetragen werden, niedrig, gemein,
laͤppiſch und leichtfertig: So iſt die ganze Poe-
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Zitationshilfe: | Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/252>, abgerufen am 24.07.2024. |