Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorzug der kriechenden Poesie
lichkeiten so hell in die Augen strahlen, daß einer
solche an sich nicht befindet, und er ist gleichwol
hohen Muthes: So muß er sich über den an-
dern ärgern. Denn er schämt sich, daß der-
selbe solche Vorzüge besitzet, die er ihm nicht
disputirlich machen kann. Diese Schaam sez-
zet ihn in einen Eifer, es jenem nach oder zuvor
zu thun. Siehet er aber, daß seine Bemühung
vergebens ist: So verwandelt sich der Gemüths-
Affect in eine Wut, und diese in einen giftigen
Neid.
Hingegen aber, wer wird wol einen
darüber beneiden, daß er auf der Erde kriechet?
Kein kriechender Poete wird auch den andern
beneiden. Denn sie sind auf gleicher Ebene.
Ein Gewürm weichet dem andern aus, das ihm
begegnet; so auch ein kriechender Poete dem an-
dern. Sie beneiden auch nicht leicht die erha-
benen Poeten. Denn weil sie sich glückseliger
dünken, wenn sie auf der Erde bleiben, als
wenn sie hoch in die Luft steigen: So haben
die erhabenen Poeten vor ihnen wol Friede.
Doch wenn sie ihnen nicht einmal das Bißgen
Erde
lassen wollen, da sie, die erhabenen Poe-
ten, die ganze Luft für sich frey haben, sich so
hoch zu schwingen, als sie nur selbst wollen: So
können sich die kriechenden Poeten doch nicht gar
ins vacuum verweisen lassen, weil sie doch wis-
sen, daß sie ein Etwas sind, das in einem ge-
wissen pou sich aufhalten müsse.

§ 14. Ein besonderer Vorzug, den die krie-
chende Poeten vor den erhabenen haben, ist auch

dieser:

Vorzug der kriechenden Poeſie
lichkeiten ſo hell in die Augen ſtrahlen, daß einer
ſolche an ſich nicht befindet, und er iſt gleichwol
hohen Muthes: So muß er ſich uͤber den an-
dern aͤrgern. Denn er ſchaͤmt ſich, daß der-
ſelbe ſolche Vorzuͤge beſitzet, die er ihm nicht
disputirlich machen kann. Dieſe Schaam ſez-
zet ihn in einen Eifer, es jenem nach oder zuvor
zu thun. Siehet er aber, daß ſeine Bemuͤhung
vergebens iſt: So verwandelt ſich der Gemuͤths-
Affect in eine Wut, und dieſe in einen giftigen
Neid.
Hingegen aber, wer wird wol einen
daruͤber beneiden, daß er auf der Erde kriechet?
Kein kriechender Poete wird auch den andern
beneiden. Denn ſie ſind auf gleicher Ebene.
Ein Gewuͤrm weichet dem andern aus, das ihm
begegnet; ſo auch ein kriechender Poete dem an-
dern. Sie beneiden auch nicht leicht die erha-
benen Poeten. Denn weil ſie ſich gluͤckſeliger
duͤnken, wenn ſie auf der Erde bleiben, als
wenn ſie hoch in die Luft ſteigen: So haben
die erhabenen Poeten vor ihnen wol Friede.
Doch wenn ſie ihnen nicht einmal das Bißgen
Erde
laſſen wollen, da ſie, die erhabenen Poe-
ten, die ganze Luft fuͤr ſich frey haben, ſich ſo
hoch zu ſchwingen, als ſie nur ſelbſt wollen: So
koͤnnen ſich die kriechenden Poeten doch nicht gar
ins vacuum verweiſen laſſen, weil ſie doch wiſ-
ſen, daß ſie ein Etwas ſind, das in einem ge-
wiſſen ποῦ ſich aufhalten muͤſſe.

§ 14. Ein beſonderer Vorzug, den die krie-
chende Poeten vor den erhabenen haben, iſt auch

dieſer:
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0146" n="138"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Vorzug der kriechenden Poe&#x017F;ie</hi></fw><lb/>
lichkeiten &#x017F;o hell in die Augen &#x017F;trahlen, daß einer<lb/>
&#x017F;olche an &#x017F;ich nicht befindet, und er i&#x017F;t gleichwol<lb/><hi rendition="#fr">hohen Muthes:</hi> So muß er &#x017F;ich u&#x0364;ber den an-<lb/>
dern a&#x0364;rgern. Denn er <hi rendition="#fr">&#x017F;cha&#x0364;mt &#x017F;ich,</hi> daß der-<lb/>
&#x017F;elbe &#x017F;olche Vorzu&#x0364;ge be&#x017F;itzet, die er ihm nicht<lb/>
disputirlich machen kann. Die&#x017F;e <hi rendition="#fr">Schaam</hi> &#x017F;ez-<lb/>
zet ihn in einen <hi rendition="#fr">Eifer,</hi> es jenem nach oder zuvor<lb/>
zu thun. Siehet er aber, daß &#x017F;eine Bemu&#x0364;hung<lb/>
vergebens i&#x017F;t: So verwandelt &#x017F;ich der Gemu&#x0364;ths-<lb/>
Affect in eine <hi rendition="#fr">Wut,</hi> und die&#x017F;e in einen <hi rendition="#fr">giftigen<lb/>
Neid.</hi> Hingegen aber, wer wird wol einen<lb/>
daru&#x0364;ber <hi rendition="#fr">beneiden,</hi> daß er auf der Erde <hi rendition="#fr">kriechet?</hi><lb/>
Kein kriechender Poete wird auch den andern<lb/>
beneiden. Denn &#x017F;ie &#x017F;ind auf <hi rendition="#fr">gleicher Ebene.</hi><lb/>
Ein Gewu&#x0364;rm weichet dem andern aus, das ihm<lb/>
begegnet; &#x017F;o auch ein kriechender Poete dem an-<lb/>
dern. Sie beneiden auch nicht leicht die erha-<lb/>
benen Poeten. Denn weil &#x017F;ie &#x017F;ich glu&#x0364;ck&#x017F;eliger<lb/>
du&#x0364;nken, wenn &#x017F;ie <hi rendition="#fr">auf der Erde</hi> bleiben, als<lb/>
wenn &#x017F;ie <hi rendition="#fr">hoch in die Luft</hi> &#x017F;teigen: So haben<lb/>
die erhabenen Poeten vor ihnen wol Friede.<lb/>
Doch wenn &#x017F;ie ihnen nicht einmal das <hi rendition="#fr">Bißgen<lb/>
Erde</hi> la&#x017F;&#x017F;en wollen, da &#x017F;ie, die erhabenen Poe-<lb/>
ten, die <hi rendition="#fr">ganze Luft</hi> fu&#x0364;r &#x017F;ich frey haben, &#x017F;ich &#x017F;o<lb/>
hoch zu &#x017F;chwingen, als &#x017F;ie nur &#x017F;elb&#x017F;t wollen: So<lb/>
ko&#x0364;nnen &#x017F;ich die kriechenden Poeten doch nicht gar<lb/>
ins <hi rendition="#aq">vacuum</hi> verwei&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en, weil &#x017F;ie doch wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, daß &#x017F;ie <hi rendition="#fr">ein Etwas</hi> &#x017F;ind, das in einem ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en &#x03C0;&#x03BF;&#x1FE6; &#x017F;ich aufhalten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
        <p>§ 14. Ein be&#x017F;onderer Vorzug, den die krie-<lb/>
chende Poeten vor den erhabenen haben, i&#x017F;t auch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die&#x017F;er:</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0146] Vorzug der kriechenden Poeſie lichkeiten ſo hell in die Augen ſtrahlen, daß einer ſolche an ſich nicht befindet, und er iſt gleichwol hohen Muthes: So muß er ſich uͤber den an- dern aͤrgern. Denn er ſchaͤmt ſich, daß der- ſelbe ſolche Vorzuͤge beſitzet, die er ihm nicht disputirlich machen kann. Dieſe Schaam ſez- zet ihn in einen Eifer, es jenem nach oder zuvor zu thun. Siehet er aber, daß ſeine Bemuͤhung vergebens iſt: So verwandelt ſich der Gemuͤths- Affect in eine Wut, und dieſe in einen giftigen Neid. Hingegen aber, wer wird wol einen daruͤber beneiden, daß er auf der Erde kriechet? Kein kriechender Poete wird auch den andern beneiden. Denn ſie ſind auf gleicher Ebene. Ein Gewuͤrm weichet dem andern aus, das ihm begegnet; ſo auch ein kriechender Poete dem an- dern. Sie beneiden auch nicht leicht die erha- benen Poeten. Denn weil ſie ſich gluͤckſeliger duͤnken, wenn ſie auf der Erde bleiben, als wenn ſie hoch in die Luft ſteigen: So haben die erhabenen Poeten vor ihnen wol Friede. Doch wenn ſie ihnen nicht einmal das Bißgen Erde laſſen wollen, da ſie, die erhabenen Poe- ten, die ganze Luft fuͤr ſich frey haben, ſich ſo hoch zu ſchwingen, als ſie nur ſelbſt wollen: So koͤnnen ſich die kriechenden Poeten doch nicht gar ins vacuum verweiſen laſſen, weil ſie doch wiſ- ſen, daß ſie ein Etwas ſind, das in einem ge- wiſſen ποῦ ſich aufhalten muͤſſe. § 14. Ein beſonderer Vorzug, den die krie- chende Poeten vor den erhabenen haben, iſt auch dieſer:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/146
Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/146>, abgerufen am 03.05.2024.