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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Für die Behauptung von Abhängigkeiten liegt ein unerläßliches ppe_175.002
methodisches Erfordernis in dem Nachweis, daß der eine Dichter bei ppe_175.003
der Abfassung seines Werkes das des anderen wirklich gekannt haben ppe_175.004
kann. Ob es ihm überhaupt zugänglich war, hängt von der Chronologie ppe_175.005
des Erscheinens ab und von der möglichen Vermittlung. Wenn ppe_175.006
Tagebücher, Briefe oder Ausleihbücher von Bibliotheken die Kenntnis ppe_175.007
erweisen, so kann durch solche Zeugnisse der Bezichtigte sogar bei ppe_175.008
eigener Ableugnung überführt werden. Meist hat der zwingende Eindruck, ppe_175.009
selbst wenn die Abhängigkeit unbewußt blieb, auf der Disposition ppe_175.010
einer gewissen Wahlverwandtschaft, die die Aufnahme begünstigte, ppe_175.011
beruht. Oft aber kommt es nur zu einer Vermutung von großer ppe_175.012
Wahrscheinlichkeit, z. B. bleibt es bei Heinr. Leop. Wagners "Kindermörderin" ppe_175.013
in ihrem Verhältnis zu Goethe unsicher, ob der Faust- ppe_175.014
Dichter trotz des Schlaftrunkmotivs den Vorwurf des Plagiats zu ppe_175.015
Recht erhob, denn das Thema der Kindermörderin war in jener philanthropischen ppe_175.016
Zeit von der Straße aufzulesen, und Wagner konnte ppe_175.017
sich außerdem auf bestimmte Vorgänge in der Straßburger Garnison ppe_175.018
berufen, während Goethe, wie Ernst Beutler nachwies, die Hinrichtung ppe_175.019
der Frankfurter Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt ppe_175.020
vor Augen hatte. Erich Schmidt hat in der Einleitung zu seiner Ausgabe ppe_175.021
des "Urfaust" mit Recht zwecks methodischer Warnung auf ppe_175.022
einen anderen Fall verwiesen, nämlich auf Daudets "Rois en exile", ppe_175.023
die unabhängig von Goethe dasselbe eigenartige Geschenkmotiv benutzten, ppe_175.024
das in der Erzählung von den "Guten Frauen" sich findet.

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In der Lyrik vollends ist aus Gleichheit der Motive niemals auf ppe_175.026
Entlehnung zu schließen; fremde Einflüsse können in Sprache und ppe_175.027
Stil, in Wortwahl, Bildern, Rhythmen und metrischen Formen viel ppe_175.028
eher sichtbar werden als in den Motiven, die immer durch das eigene ppe_175.029
Erlebnis des Dichters hindurchgegangen sein müssen und mit Notwendigkeit ppe_175.030
aus ihm hervorgehen. Die Stofflosigkeit der Lyrik gibt ppe_175.031
der Situation und den Motiven eine erhöhte Bedeutung; ihrer stimmungsmäßigen ppe_175.032
Verknüpfung fällt die Herstellung des Zusammenhanges ppe_175.033
zu, der das ausmacht, was in den pragmatischen Dichtungsgattungen ppe_175.034
die geprägte Fabel bedeutet.

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Da die reine Lyrik keinen von außen an den Dichter herangetragenen ppe_175.036
Stoff kennt, darf das, was als lyrisches Motiv bezeichnet werden ppe_175.037
kann, nicht Element des Stoffes sein, sondern Element des Erlebnisses. ppe_175.038
In R. M. Werners großem Buche, das alle Lyrik aus dem Erlebnis ppe_175.039
herleitet, fehlt gleichwohl der Begriff des Motivs. Dafür sind mit ppe_175.040
positivistischem Schematismus drei Tabellen der lyrischen Unterarten, ppe_175.041
die mißverständlich als Gattungen bezeichnet werden, ausgefüllt.

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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/199>, abgerufen am 22.11.2024.